Aus dem Rathausener Tagblatt
I.
Rathausen, den 7. Oktober.
Soeben kommt das Gerücht einer ebenso beklagenswerten als ruchlosen Tat zu unsern Ohren, einer Tat, die sich nur aus der tiefen moralischen Verderbnis unserer modernen gesellschaftlichen Zustände erklären läßt. Der Tatbestand ist folgender:
Ein junger Maler aus hiesiger Stadt lockt durch Schmeicheleien ein junges, schönes, aber noch sehr schüchternes weibliches Modell in sein Atelier. Da sie ihm nicht zu Willen ist, ermordet er sie. Alles Schreien der Unglücklichen wird überhört, da das Atelier des Malers im Hintergebäude über drei Stiegen liegt. Bei einbrechender Nacht schleppt der Mörder den Leichnam der Ermordeten in den Hof, um ihn dort eigenhändig in den Sand zu scharren.
Unmittelbar darauf begibt sich derselbe in eine nahegelegene Brauerei und trinkt wie gewöhnlich seine sechs Glas Bier, ohne daß eine besondere Aufregung an ihm bemerklich gewesen wäre.
Es steht zu erwarten, daß es der anerkannten Umsichtigkeit unserer hochlöblichen Polizei sehr baldge lingen werde, die näheren Umstände und tieferliegenden Motive dieser Tat ans Licht zu ziehen.
Nachschrift.
Wie wir aus glaubwürdiger Quelle vernehmen, soll eine würdige alte Dame unserer Stadt bei diesem Vorfalle sehr nahe und schmerzlich beteiligt sein. – Der Täter ist bereits eingezogen und wird jetzt möglicherweise schon sitzen.
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II.
Rathausen, den 8. Oktober
Dem von uns unter dem gestrigen Datum berichteten und bereits in weiteren Kreisen vielfach besprochenen Vorfalle scheint zu unserem Bedauern lediglich ein mutwillig verbreitetes Gerücht zugrunde zu liegen und ist dasselbe dahin zu berichtigen, daß allerdings ein junger Maler ein junges, weibliches Modell ermordet hat, und daß allerdings eine alte würdige Dame von diesem Vorfalle nahe berührt ist; daß aber dieser Maler ein Tiermaler und das Modell die Lieblingskatze einer alten Dame ist, in deren Hause der Maler vor kurzem ein Atelier bezogen hatte.
Daß er demzufolge eingezogen, ist gewiß, und daß er jetzt schon sitzt, nämlich im Wirtshause, wird niemandem, der ihn näher kennt, unmöglich scheinen.
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