284. An Maria Anderson
284. An Maria Anderson
Wolfenbüttel 29 Mai 75
Liebe Frau Anderson!
Gewißheit giebt allein die Mathematik. Aber leider streift sie nur den Oberrock der Dinge. Wer je ein gründliches Erstaunen über die Welt empfunden, will mehr. Er philosophirt – und was er auch sagen mag – er glaubt. – In meinem elften Jahr verblüffte mich der Widerspruch zwischen der Allwißenheit Gottes und dem freien Willen des Menschen; mit 15 Jahren zweifelte ich am ganzen Katechismus. Seit ich Kant in die Hände kriegte, scheint mir die Idealität von Zeit und Raum ein unwiderstehliches Axiom. Ich sehe die Glieder der Kette in Eins: Kinder, Eltern, Völker, Thiere, Pflanzen und Steine. Und Alle seh ich sie von einer Kraft erfüllt. –
Drum gefällt mir Byron so sehr. – Wie könnte uns auch das Zeug nur so bedeutungsvoll erscheinen, wenn alles nicht aus einer Wurzel wüchse? Die ist, was Schopenhauer den Willen nennt: Der allgegenwärtige Drang zum Leben; überall derselbe, der einzige; im Himmel und auf Erden; in Felsen, Waßer, Sternen, Schweinen, wie in unsrer Brust. Er schafft und füllt und drängt, was ist. Im Oberstübchen sitzt der Intellekt und schaut dem Treiben zu. Er sagt zum Willen: »Alter! laß das sein! Es giebt Verdruß!« Aber er hört nicht. Enttäuschung; kurze Lust und lange Sorge; Alter, Krankheit, Tod, sie machen ihn nicht mürbe; er macht so fort. Und treibt es ihn auch tausend Mal aus seiner Haut, er findet eine neue, die's büßen muß. – Und dieser Wille, das bin ich. Ich bin mein Vater, meine Mutter, ich bin Sie und Alles. Darum giebt es Mitleid, darum giebt's Gerechtigkeit.
Natur und Lehre sind verschieden, Natur ist stärker als die Lehre – sagen Sie. Natürlich und gewiß! Der Wille ist der Starke, Böse, Wirkungsvolle, Erste; der Intellekt ist No 2. – Nichtwollen, Ruhe wär' das Beste. – Wie soll das kommen? – Da steckt's Mysterium.
Bin ich nun deutlich? – Seien Sie gut und brav und liebenswürdig und sagen Sie: Ja wohl!
Ihr Wilh. Busch.