654. Die Leichenflugbahn zu Ragnit.

(S. Ziehnert Bd. II. S. 60 etc. Poetisch bei Thiele S. 35 etc.)


Zu Ragnit, einer Kreisstadt im preuß. Reg.-Bez. Gumbinnen, sind zwei Gottesäcker, der eine südwestlich von der Stadt für die deutsche, der andere [610] östlich gelegene für die litthauische Gemeinde. Auf dem Striche zwischen diesen beiden Gottesäckern leidet es aber, wie die Sage erzählt, weder Baum noch Strauch, weder Haus noch Mauer, weder Zaun noch Hecke, denn die Todten, die im Leben mit einander befreundet gewesen sind, besuchen sich in stürmischen Nächten und fliegen in der Luft von einem Gottesacker zum andern. Sie fliegen aber nicht hoch über der Erde, und deshalb leiden sie keinen auch nur wenige Ellen hohen Gegenstand auf ihrem Wege. Einstmals baute ein Fremder, ohne die Warnungen der dortigen Einwohner zu achten, ein Haus auf der Südseite der Stadt, wo es also noch im Bereiche der Leichenflugbahn lag. Ehe aber das Sparrwerk aufgesetzt ward, da kam einmal eine stürmische Nacht und am Morgen lagen die starken Mauern des neuen Hauses in Trümmern, da doch etliche armselige Hütten, die wenige Schritte davonstanden, aber den Leichen nicht im Wege waren, den Sturm ohne allen Schaden ausgehalten hatten. Da ergriff den Bauherrn ein heimliches Grausen, aber er schämte sich, jetzt durch Schaden klug werden zu sollen, nachdem er dies viel wohlfeiler durch die Ragniter Warnung hätte werden können und versuchte den Todten zu trotzen. Er ließ also das Haus noch einmal aufbauen und noch stärker und fester als das erste Mal, aber wie es wieder bis ans Dach war, trat eine stürmische Nacht ein und am Morgen lag das Haus wieder in Trümmern. Nun wich der Bauherr der Macht der Todten und baute sein Haus ein wenig seitab, so daß es nicht mehr in dem Striche zwischen den Gottesäckern lag. Dort hat es viele Nächte unbeschadet ausgehalten und steht heute noch.

Es muß aber die Flugbahn der Todten gar genaue Grenzen haben, denn einmal wollte ein Bürger von Ragnit eine Scheuer südlich von der Stadt bauen, und da er ein Sonntagskind und ihm also die Geister sichtbar waren, so beobachtete er in einer stürmischen Nacht den Flug der Todten genau und steckte sich ein Zeichen ab, damit er mit seinem Baue ihnen nicht in den Weg geriethe. Er mochte aber dabei doch um ein Paar Ellen zu knapp gekommen sein, denn als die Scheuer fertig war und in einer Nacht der Sturm tobte, da war am Morgen darauf die Ecke des einen Scheunengiebels morsch abgerissen. Alsbald ließ der Besitzer denselben einrücken und nun blieb er unbeschadet. Aber eine kleine Dachspitze der Scheuer ragt heute noch in die Flugbahn der Todten, und so oft eine stürmische Nacht ist, reißen sie dieselbe herunter, so daß der Besitzer sie wohl hundertmal im Jahre ausbessern lassen muß.

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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Zweiter Band. West- und Ostpreußen. 654. Die Leichenflugbahn zu Ragnit. 654. Die Leichenflugbahn zu Ragnit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-3F28-D