268. Geschichte des Grafen Walther und der Helgunda.

(Nach Klose's Geschichte und Beschreib. v. Breslau 1781, Th. I. S. 254-261, bei Büsching S. 3 etc.)


In alten Zeiten lag eine sehr berühmte Stadt in Polen, Wislicz genannt, deren Herrscher zur Zeit des Heidenthums Wislaw der Schöne gewesen ist. Diesen soll aber ein Graf, Walther der Starke genannt, dessen Schloß Tynicz Krakau benachbart lag, wo jetzt die Abtei St. Benedicti durch Kasimir den Mönch, König von Polen gegründet, steht, in einer Fehde gefangen, in Fesseln gelegt und in einem Thurm in enger Gefangenschaft gehalten haben. Dieser Walther hatte aber eine gewisse Helgunda, die Tochter eines fränkischen Königs zur Gemahlin, die er mit großer Lebensgefahr aus ihrer Heimath dereinst entführt hatte. Dies war aber also zugegangen.

An dem Hofe des fränkischen Königs, des Vaters der Helgunda, befand sich ein alemannischer Prinz, um dort ritterliche Sitten zu lernen. Nun hatte aber er zu der schönen Prinzessin eine tiefe Zuneigung gefaßt, und sie umgekehrt auch zu ihm; jener Walther aber, der sich damals ebenfalls dort befand, wollte die Jungfrau für sich gewinnen und so bestach er denn die Thurmwächter, daß sie ihm gestatteten, auf die Zinne des Schlosses zu steigen und dort bei Sonnenaufgang ein Lied zu singen, er wußte nämlich, daß er ein ausgezeichneter Sänger war und daß so leicht Niemand dem Schmelz seiner Stimme widerstehen könne. Wie er erwartet hatte, so geschah es auch, Helgunda erwachte frühzeitig von dem lieblichen Gesang, lauschte mit ihren Dienerinnen den süßen Tönen und als dieselben verklungen waren, eilte sie selbst hinaus um den Sänger zu sehen und kennen zu lernen, er war aber verschwunden und der Thurmwächter wagte es nicht, Walther zu verrathen, sondern gab vor, er habe Niemanden gesehen und gehört. Als aber der Sänger den folgenden und den dritten Tag auch wiederkam, da ließ sich die Prinzessin nicht mehr mit der Entschuldigung des Nichtwissens von Seiten des Wächters abspeisen, sondern befahl, ihm das Leben zu nehmen, wenn er die Wahrheit noch länger verschweigen werde. Nun nannte derselbe Walthern als den Sänger, Helgunda ließ sich ihn vorstellen und faßte augenblicklich eine solche Zuneigung für ihn, daß sie ihm bald nichts mehr abzuschlagen hatte, und natürlich an den allemannischen Prinzen nicht mehr dachte.

Der fremde Prinz aber, als er sah, daß er von der Prinzessin schimpflich zurückgesetzt werde, wurde von heftigem Zorn ergriffen, verließ den Hof des fränkischen Königs und nahm, in sein Vaterland zurückgekehrt, am Rhein alle Zölle in Besitz. Er befahl strenge darüber zu wachen, daß Niemand mit einer Jungfrau übergesetzt werde, er zahle denn eine Tonne Goldes. Einige Zeit hernach suchten Walther und Helgunda Gelegenheit zu entfliehen, und fanden sie. An dem bestimmten Tage entrannen sie, aber als sie an die ihnen erwünschten Ufer des Rheins kamen, verlangten die Schiffer für die Ueberfahrt eine Tonne Goldes, welche sie auch erhielten, aber sie gleichwohl [287] vom Uebergange abzuhalten suchten, bis der Sohn des Königs käme. Walther aber, der die Gefahr im Verzuge merkte, bestieg sogleich sein Roß und befahl der Helgunda, sich hinter ihm zu setzen, und in den Fluß springend setzte er schneller als ein Pfeil über. Als er sich kaum von dem Flusse Rhein entfernt hatte, hörte er ein Geschrei hinter seinem Rücken von dem ihn verfolgenden alemannischen Prinzen, der mit lauter Stimme rief: »Treuloser, mit der Tochter des Königs entflohest Du heimlich, und ohne Zoll zu entrichten, setztest Du über den Rhein. Halte an Deine Schritte, halt, daß ich mit Dir einen Zweikampf beginne und wer Sieger sein wird, soll das Pferd des Besiegten und die Waffen und Helgunda haben.« Diesem Geschrei antwortete Walther unerschrocken und sprach: »Was sprichst Du von der Königstochter? Die Mark Goldes habe ich bezahlt und die Tochter des Königs nicht durch Gewalt erhalten, sondern freiwillig mir folgen wollend, habe ich sie in meiner Gesellschaft.«

Nachdem sie dieses gesprochen hatten, ging einer auf den andern mit eingelegter Lanze erbittert los und als diese zersplittert, zogen sie die Schwerter und übten männlich ihre Kräfte. Weil nun aber der Alemanne von der Gegenseite kommend Helgunden im Auge hatte, ward er so durch ihren Anblick ermuthigt, daß er den Walther zum Weichen nöthigte, bis dieser zurückschreitend auch die Helgunda erblickte. Kaum erblickte er sie, als er von Scham und großer Liebe zu ihr ergriffen, mit gesammelten Kräften auf den Alemannen stark eindrang und ihn sogleich tödtete. Er nahm dessen Pferd und Waffen, setzte seine Reise fort und kam mit doppeltem Triumph gekrönt bei seiner Helgunda wieder an. Auf seine Burg Tynicz gelangt, nach glücklich vollbrachtem Abenteuer, ergab er sich einige Zeit lang der Ruhe um sich zu erholen. Da erfuhr er aus den Klagen der Seinigen, daß Wislaw der Schöne, Herrscher von Wislicz, in seiner Abwesenheit seine Leute beleidigt habe. Dies drückte sein Gemüth sehr schwer, er suchte Ursachen um sich an Wislaw zu rächen, endlich griff er ihn an, besiegte ihn und legte den Besiegten, wie oben gesagt worden ist, in einen tiefen Thurm des Schlosses Tynicz, um ihn als Gefangenen zu bewahren.

Einige Zeit darauf irrte er, um kriegerische Abenteuer aufzusuchen, durch entfernte Gegenden, und als das Jahr schon zweimal seinen Kreislauf vollendet hatte, ward Helgunda über die Abwesenheit ihres Gemahls in nicht geringem Grade mißmüthig und dahin gebracht, einer ihrer vertrauten Kammerjungfrauen mit niedergeschlagenen Augen zu sagen: »Ich bin nicht Wittwe und nicht verheirathet«, und dabei dachte sie an diejenigen, welche mit tapfern und streitbaren Männern ehelich verbunden sind. Die Vertraute, welcher der traurige und verlassene Zustand ihrer Herrin zu Herzen ging, enthüllte ihr, indem sie sich aller weiblichen Schamhaftigkeit entäußerte, daß Fürst Wislaw, von schöner Gestalt und Adel des Körpers, sowie von lieblichem Anblick, in dem Thurme gefangen liege, und die Unglückliche rieth, daß sie befehle, ihn in stiller Nacht aus dem Thurme zu ziehen und, wenn sie sich seiner lieblichen Umarmung erfreut hätte, ihn sicher wieder in den untersten Theil des Thurmes zu bringen.

Jene war den Reden der Vertrauten günstig geneigt und, obgleich von ängstlicher Furcht beklemmt, fürchtete sie sich doch nicht, Leben und Ruf der Ehre preiszugeben, befahl, den Wislaw aus dem Innern des Kerkers herbeizuführen, [288] und durch seinen Anblick und den Adel seines Aeußern, welche sie bewundert, ward sie erfreut. Nun wollte sie ihn nicht mehr in den Kerker werfen lassen, sondern vielmehr, mit ihm durch die innigsten Fesseln verknüpft und durch unauflösliche Liebes-Banden verkettet, floh sie nach Wislicz, das Ehebett ihres Mannes verlassend. So kehrte Wislaw in sein Eigenthum zurück, indem er glaubte, einen doppelten Triumph errungen zu haben, der aber in dem wankelmüthigen Ausgang, durch den Tod Beider sich endete.

Denn kurze Zeit hernach, als Walther zu seiner Heimath zurückkehrte, fragte er seine Landsleute, warum ihm nicht Helgunda bei seiner erfreulichen Ankunft bis vor die Thore des Schlosses entgegengekommen? Ihm erwiderten darauf seine Lehnsmannen, wie Wislaw aus der Wacht des tiefsten Thurmes durch Hilfe der Helgunda befreit worden sei und diese mit sich hinweggeführt habe. Sogleich, von mächtiger Wuth erfüllt, eilte nun Walther gen Wislicz, nicht fürchtend sich um das Seine ungewissen Erfolgen auszusetzen. Unvermuthet kam er in dieser Stadt an, als Wislaw außerhalb der Mauern sich mit Jagen beschäftigte.

Kaum erblickte ihn aber Helgunda in der Stadt, so eilte sie sogleich zu ihm, fiel auf ihre Kniee nieder und beklagte sich heftig über Wislaw, der sie mit Gewalt geraubt habe, den Walther beredend, daß er mit ihr in die innern Gemächer des Hauses käme, indem sie ihm versprach, auf seinen Wink den Wislaw sogleich in seine Hände zu liefern. Dieser glaubte auch der verführerischen Ueberredung der Betrügerin, ging mit ihr in die feste Wohnung, wo sie ihn dem Wislaw als einen Gefangenen vorführte. Wislaw und Helgunda freuten sich höchlich über den glücklichen Erfolg, nicht daran denkend, daß einer so großen Freude oft großes Leid folgt.

Wislaw wollte nun aber den Walther nicht in gewöhnlicher Kerkerhaft behalten, sondern ihn mit mehr als mit dem schaurigen Aufenthalt in einem Verließe quälen. Er ließ ihn nämlich an die Wand des Speisesaales mit ausgespannten Armen, aufgerichtetem Halse und Füßen, durch eiserne Klammern aufrecht anschließen. Dorthin ließ er ein Ruhebettlein bringen, worauf er im Sommer mit der Helgunda in zärtlicher Umarmung der Ruhe pflegte.

Wislaw aber hatte eine leibliche Schwester, welche ihrer außerordentlichen Häßlichkeit wegen Niemand zum Weibe begehrte, und ihrer Bewachung hatte vor allen Hütern Wislaw den Walther anvertraut. Ihr gingen aber die Leiden desselben schwer zu Herzen und sie fragte ihn, gänzlich ihre jungfräuliche Sittsamkeit verleugnend, ob er sie wohl zum Weibe nehmen wolle? dann wolle sie seinen Leiden Erleichterung verschaffen und ihn aus seinen Ketten befreien. Er versprach ihr und bekräftigte mit einem Eide, daß er sie mit ehelicher Liebe, so lange sie lebten, behandeln wolle und nie mit seinem Schwert gegen ihren Bruder Wislaw, das machte sie sich aus, kämpfen werde. Er bat sie darauf, daß sie sein Schwert aus dem Bette ihres Bruders nehmen und ihm bringen möge, auf daß er mit demselben seine Fesseln lösen könne. Sie brachte ihm sofort das Schwert und durchhieb, wie ihr Walther befahl, ein jedes Band der eisernen Schienen und Ketten und verbarg hierauf zwischen seinem Rücken und der Wand das Schwert, daß er zu einer gelegenen Zeit es ergreifen und sicher davon gehen könne.

[289] Jener wartete nun aber bis auf die Nachmittagsstunde des folgenden Tages, da Wislaw mit der Helgunda, sich gegenseitig umarmend, auf dem Ruhebettlein saß. Da redete sie Walther gegen seine Gewohnheit an und sagte: »Wie würde Euch sein, wenn ich befreit von den Fesseln, mein gezogenes Schwert in den Händen vor Euerem Ruhebette stände und drohte für Euere Schandthaten an Euch Rache zu nehmen?« Bei diesen Worten aber klopfte der Helgunda das Herz und zitternd sagte sie zu Wislaw: »Wehe! Herr, sein Schwert fand ich heute nicht in unserem Lager, und über Dein Kosen habe ich es vergessen Dir zu entdecken.« Wislaw aber entgegnete ihr, wenn er auch zehn Schwerter hätte, könne er ihnen der Eisengebände wegen, die er nur durch die Künste eines Schmiedes zu lösen vermöchte, doch nichts thun.

Als jene aber so unter sich schwatzten, sprang auf einmal Walther frei von seinen Ketten auf und sie sahen ihn mit geschwungenem Schwerte vor dem Ruhebette stehen, und nachdem er sie verflucht hatte, hob er die Hand mit dem Schwerte auf und ließ es auf Beide herabfallen und fallend hieb es Beide auseinander. So schloß Beider verächtliches Leben durch ein unseliges Ende. Noch zeigt man aber, wie Boguphalus der Bischof von Posen, der diese Begebenheit niedergeschrieben hat, sagt, das Grab der Helgunda in Stein gehauen im Schlosse zu Wislicz allen denen, die es zu sehen wünschen, bis auf den heutigen Tag 1 (1253).

Fußnoten

1 Diese Geschichte ist keine andere als die zum Sagenkreise der Nibelungen gehörige, auch in einem lateinischen Gedichte, Waltharius betitelt, erhaltene Geschichte von Walther von Aquitanien.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. Sagen. Sagenbuch des Preußischen Staats. Zweiter Band. Schlesien und die Niederlausitz. 268. Geschichte des Grafen Walther und der Helgunda. 268. Geschichte des Grafen Walther und der Helgunda. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-554A-F