714. Ragaine.
(S. Preuß. Prov.-Bl. Bd. XXIII. S. 44.)
Wenn man hinter dem östlich unmittelbar an der Stadt Ragnit (litthauisch Ragaine) gelegenen Gute Hagelsberg den Fußsteig links ab von der Landstraße bis an den steilabfallenden Uferrand einschlägt, so kündigen drei regelmäßig [648] abgekantete durch tiefe Schluchten von einander getrennte Ufertheile, der litthauische Kirchhof, der Mühlen- und der jetzt noch sogenannte Schloßberg, die den Vordergrund der malerisch schön geschlossenen Stromlandschaft bilden, diejenige Gegend an, wo einst die geschichtlich bekannte Heidenburg Ragaine gelegen war, mit deren eben so rasch als schrecklich vollführter Erstürmung im Jahre 1276 durch Dietrich von Liedelau, Vogt von Samland, der Grund zu Schalaunens Unterjochung gelegt ward. Von diesem Heidenschlosse existirt aber folgende Sage.
Als die drei Söhne des Riesenfürsten von Ragnit ihre drei Schlösser auf der Wilmantis-, Tilzsatis- und Rombinus-Höhe erbaut hatten, wollte ihnen ihr Vater nicht nachstehen, und erbaute auf dem gegenüberliegenden Uferberge das mächtige Ragaineschloß. Glücklich und lange wohnte er darin und geraume Zeit hatten hier Riesen ihren Hauptsitz, bis endlich nach dem allmäligen Aussterben derselben nur noch der Riesenfürst und seine Tochter übrig waren. Als, wie er meinte, die Stunde seines Todes nahe war, erklärte seine Tochter zu seiner innigen Freude, daß sie ihm folgen wolle, er schritt also noch einmal durch die Straßen des Burgorts, schloß alle Häuser zu und that dasselbe mit den Thoren; nachdem er dann auch den Haupteingang verschlossen, legte er den Schlüssel außerhalb vor demselben auf den Weg, daß Jeder, der die Straße nach dem Schlosse ziehe, ihn sehe und von seiner Bestimmung Gebrauch mache. Hierauf zog er sich in sein Gemach zurück um sein letztes Stündlein abzuwarten, seine Tochter trat aber noch einmal auf die Zinnen des Schlosses, um noch ein letztes Mal hinauszuschauen auf die lachenden Fluren und den Memelstrom und von der schönen Gegend auf immer Abschied zu nehmen. Siehe da zog eine Schaar Männer mit Gesang die Straße daher und als sie die prächtige Burg erblickten und ihr Anführer den offen daliegenden Schlüssel gewahrte, da hielten sie dies für eine glückverkündende Einladung sich für immer hier niederzulassen. Der Anführer wollte also den Schlüssel aufnehmen, allein derselbe war, wie klein er auch schien, wie mit tausend Ketten an den Boden gefesselt, und wie sich auch die Stärksten aus der ganzen Schaar bemühten, ihn aufzuheben, Niemand vermochte es. Mittlerweile hatte die Jungfrau ihren Vater von der Ankunft der Fremdlinge unterrichtet, er trat heraus auf die Zinne, begrüßte sie und sprach: »Ihr könnt hier bleiben, allein nur dieser Schlüssel öffnet Euch das Thor, und dieser ist durch einen Zauberspruch festgebannt, ein Name kann ihn wieder lösen, wer ihn erräth, der hebt ihn spielend von der Erde auf. Darum frage ich: Wie heißt die Jungfrau, die zum ehrenden Zeichen unserer uralten himmlischen Abkunft ihr Haupt mit des Mondes goldenen Hörnern umkränzt und an Stirn und Achseln die Himmelszeichen trägt? Wer den Namen nennt, bekömmt das Schloß und Land und dann meiner Tochter Hand!« Und sie riethen vom Morgen bis zum Abend, aber Keiner vermochte den Namen zu sagen, und schon war der neunte Tag angebrochen und noch war der Name unerrathen, da schritt ein Jüngling in schlechter Kleidung, eine Brodtasche umgehängt, durch die Reihen der Männer und sprach: »Die Jungfrau, Deine Tochter, heißt Ragaina!« Da rief der Fürst laut aus: »Du hast es getroffen, Du wirst mein Nachfolger und Schwiegersohn, jetzt hebe den Schlüssel auf und öffne das Thor. Ihr andern Fremdlinge aber könnt auch in die Burgstadt ziehen und Euch hier niederlassen, nur[649] muß Euer Anführer sich diesem meinen Schwiegersohn unterordnen. Zum Andenken daran aber, daß Du Dich mit einer Jungfrau aus dem Geschlechte der Riesenfürsten verbunden hast, so mögen Deine künftigen wie Deines Volkes Töchter die Hornflechten (Raga's Horn) und die Himmelszeichen fortan tragen!« So ist es bis auf diese Stunde geblieben, die Mädchen aus den drei Kirchspielen Ragnit, Willischken und Wischwill zeichnen sich heute noch durch die sehr sauber gelegten Buckel- oder Hornflechten, das himmelblaue oder jetzt gewöhnlich schwarze Sammtband mit goldnen Sternen, welches um die Stirne unmittelbar unter den Flechten getragen wird, und endlich durch die reiche Stickerei an den weiten Hemdärmeln aus.
Nachdem der alte Fürst Alles geordnet, legte er sein Haupt zur ewigen Ruhe nieder. Zehn Jahre lebte der neue Herrscher in ungestörtem Glücke, da riß ihn Giltino's Neid aus den Armen Ragaina's. Noch lange blieb aber die Herrschaft bei den Ragainern, die in friedlicher Gemeinschaft das Schloß und Land bewohnten und verwalteten. Da zog ein fremder Fürst mit einem starken Heere vor die Burg Ragaine und verlangte unbedingte Unterwerfung 1. Allein die Bewohner widerstanden ihm mit der größten Tapferkeit und er konnte, so viel er auch stürmte, die Burg nicht erobern. Er beschloß also sie auszuhungern, allein da ward in dem Schloßbrunnen ein Hecht von riesenhafter Größe gefangen, den hingen die Belagerten wie eine Siegesfahne an einem langen Speer über das Schloßthor den Feinden zum Spott und Aerger hinaus, indem sie sagten, die Alles ernährende Mutter Natur lasse sie nicht darben, und da hob der Fremde nach neunjährigem Kampfe die Belagerung auf und zog von dannen 2.
Auf dem Platze, wo einst die Burg Ragaine stand, erbauten die Deutschordensritter das feste Ordenshaus Landshut, von dem auch jetzt noch einige bewohnbare Ueberbleibsel übrig sind, welche zu einer Strafanstalt dienen. Von den alten Gräben und Wällen sieht man indeß nicht mehr viel, nur auf dem Schloßberge zeigt sich eine im Halbbogen aufsteigende Erhöhung, innerhalb deren, mehr nach dem Strome zu, sich eine 20 Fuß tiefe Rundhöhlung befindet, durch die man früher bis zu dem Flusse, wie auch zu dem nach der Daubas (Schlucht) bei Tussainen führenden Gange soll haben gelangen können. Später hat man sie verschüttet und jetzt sieht man in jener Vertiefung noch ein senkrecht hinabgehendes Loch, welches aber nicht sehr tief zu sein scheint. Im schwedischen Kriege ist dieser unterirdische Gang von neugierigen Offizieren untersucht worden, allein als man den Eingang das erste Mal öffnete, strömte eine so pestilenzialische Ausdünstung heraus, daß die meisten Arbeiter betäubt zu Boden fielen. Nach mehrtägiger Lüftung drang man endlich in das Innere ein und fand hier ein gemauertes unabsehbares Gewölbe, an dessen Decke in der Mitte große Lampen an Eisenstäben hingen, und das überdies noch eine Breite für zwei nebeneinander fahrende Wagen hatte, man fand auch Waffen und Gerippe hier, welche auf einen an diesem Orte stattgehabten Kampf schließen ließen. Später hat man hier noch mehrmals vergeblich nach Schätzen gesucht. Einer der Besitzer [650] ließ deshalb die Mauerstücke vollends abbrechen, er verfiel aber in eine schwere Krankheit, aus der er erst genas, nachdem er gelobt hatte, den Berg fernerhin unberührt zu lassen. Sein Nachfolger wollte die Tiefe der Oeffnung untersuchen und ließ zu diesem Zwecke einen starken Wiesenbaum hinab, der jedoch pfeilschnell mit Brausen wieder emporfuhr, so daß Alle erschreckt davon flohen. Ein dritter ließ trotzdem abermals Nachforschungen hier anstellen, da erschien ihm im Traume eine weißgekleidete Gestalt, die ihn mit milden Worten von seinem Beginnen abmahnte, und als er doch nicht davon abstand, so erschien sie ihm ein zweites und drittes Mal, aber mit so gesteigert drohender Miene, daß er endlich wirklich sein Vorhaben aufgab.