Johann Wolfgang Goethe
Serbische Lieder
[274] Schon seit geraumer Zeit gesteht man den verschiedenen eigentümlichen Volksdichtungen einen besondern Wert zu, es sei nun, daß dadurch die Nationen im ganzen ihre Angelegenheiten, auf große Staats- und Familienverhältnisse, auf Einigkeit und Streit, auf Bündnisse und Krieg bezüglich, überliefern oder daß die einzelnen ihr stilles, häusliches und herzliches Interesse vertraulich geltend machen. Bereits ein halbes Jahrhundert hindurch beschäftigt man sich in Deutschland ernstlich und gemütlich damit, und ich leugne [274] nicht, daß ich unter diejenigen gehöre, die ein auf diese Vorliebe gegründetes Studium unablässig selbst fortsetzten, auf alle Weise zu verbreiten und zu fördern suchten; wie ich denn auch gar manche Gedichte, dieser Sinnes- und Gesangesart verwandt, von Zeit zu Zeit dem rein fühlenden Komponisten entgegenzubringen nicht unterließ.
Hiebei gestehen wir denn gerne, daß jene sogenannten Volkslieder vorzüglich Eingang gewinnen durch schmeichelnde Melodien, die in einfachen, einer geregelten Musik nicht anzupassenden Tönen einherfließen, sich meist in weicher Tonart ergehen und so das Gemüt in eine Lage des Mitgefühls versetzen, in der wir, einem gewissen allgemeinen, unbestimmten Wohlbehagen wie den Klängen einer Äolsharfe hingegeben, mit weichlichem Genusse gern verweilen und uns in der Folge immer wieder sehnsüchtig darnach zurückbestreben.
Sehen wir aber endlich solche Gedichte geschrieben oder wohl gar gedruckt vor uns, so werden wir ihnen nur alsdann entschiedenen Wert beilegen, wenn sie auch Geist und Verstand, Einbildung und Erinnerungskraft aufregend beschäftigen und uns eines ursprünglichen Volksstammes Eigentümlichkeiten in unmittelbar-gehaltvoller Überlieferung darbringen; wenn sie uns die Lokalitäten, woran der Zustand gebunden ist, und die daraus hergeleiteten Verhältnisse klar und auf das bestimmteste vor die Anschauung führen.
Indem nun aber solche Gesänge sich meist aus einer späteren Zeit herschreiben, die sich auf eine frühere bezieht, so verlangen wir von ihnen einen angeerbten, wenn auch nach und nach modifizierten Charakter zugleich mit einem einfachen, den ältesten Zeiten gemäßen Vortrag; und in solchen Rücksichten werden wir uns an einer natürlichen, kunstlosen Poesie nur einfache, vielleicht eintönige Rhythmen gefallen lassen.
Von gar Mannigfaltigem, was in dieser Art neuerlich mitgeteilt worden, nennen wir nur die neugriechischen, die [275] bis in die letzten Zeiten heraufreichen, an welche die serbischen, obgleich altertümlicher, gar wohl sich anschließen oder vielmehr nachbarlich ein-und übergreifen.
Nun bedenke man aber einen Hauptpunkt, den wir hervorzuheben nicht verfehlen: Solche Nationalgedichte sind einzeln, außer Zusammenhang nicht füglich anzusehen, noch weniger zu beurteilen, am wenigsten dem rechten Sinne nach zu genießen. Das allgemein Menschliche wiederholt sich in allen Völkern, gibt aber unter fremder Tracht, unter fernem Himmel kein eigentliches Interesse; das Besonderste aber eines jeden Volks befremdet nur, es erscheint seltsam, oft widerwärtig, wie alles Eigentümliche, das wir noch nicht in einen Begriff auffassen, uns noch nicht anzueignen gelernt haben: In Masse muß man deshalb dergleichen Gedichte vor sich sehen, da alsdann Reichtum und Armut, Beschränktheit oder Weitsinn, tiefes Herkommen oder Tagesflachheit sich eher gewahren und beurteilen läßt.
Verweilen wir aber nicht zu lange im allgemeinen Vorworte und treten unser Geschäft ungesäumt an. Wir gedenken von serbischen Liedern zunächst zu sprechen.
Man erinnere sich jener Zeiten, wo unzählbare Völkerschaften sich von Osten her bewegen, wandernd, stockend, drängend, gedrängt, verwüstend, anbauend, abermals im Besitz gestört und ein altes Nomadenleben wieder von vorn beginnend.
Serben und Verwandte, von Norden nach Osten wandernd, verweilen in Mazedonien und kehren bald nach der Mitte zurück, nach dem eigentlichen sogenannten Serbien.
Das ältere serbische Lokale wäre nun vor allen Dingen zu betrachten, allein es ist schwer, sich davon in der Kürze einen Begriff zu machen. Es blieb sich wenige Zeiten gleich, wir finden es bald ausgedehnt, bald zusammengedrängt, zersplittert oder gesammelt, wie innere Spaltung oder äußerer Druck die Nation bedingte.
Auf alle Fälle denke man sich die Landschaft weiter und [276] breiter als in unsern Zeiten, und will man sich einigermaßen an Ort und Stelle versetzen, so halte man vorerst an dem Zusammenfluß der Save mit der Donau, wo wir gegenwärtig Belgrad gelegen finden. Bewegt sich die Einbildungskraft an dem rechten Ufer des erstern Flusses hinauf, des andern hinunter, hat sie diese nördliche Grenze gewonnen, so erlaube sie sich dann, südwärts ins Gebirg und darüber weg bis zum Adriatischen Meer, ostwärts bis gegen Montenegro hin zu schweifen.
Schaut man sich sodann nach näheren und fernen Nachbarn um, so findet man Verhältnisse zu den Venezianern, zu den Ungarn und sonstigen wechselnden Völkern; vorzüglich aber in früherer Zeit zum griechischen Kaisertum, bald Tribut gebend, bald empfangend, bald als Feind, bald als Hülfsvolk; späterhin bleibt mehr oder weniger dasselbe Verhältnis zum türkischen Reich.
Wenn nun auch die zuletzt Eingewanderten eine Liebe zu Grund und Boden in der Flußregion der Donau gewannen und, um ihren Besitz zu sichern, auf den nächsten und ferneren Höhen so Schlösser als befestigte Städte erbauten, so bleibt das Volk immer in kriegerischer Spannung; ihre Verfassung ist eine Art von Fürstenverein unter dem losen Band eines Oberherrn, dem einige auf Befehl, andere auf höfliches Ersuchen wohl Folge leisten.
Bei der Erbfolge jedoch größerer und kleinerer Despoten hält man viel, ja ausschließlich auf uralte Bücher, die entweder in der Hand der Geistlichkeit verwahrt liegen oder in den Schatzkammern der einzelnen Teilnehmer.
Überzeugen wir uns nun, daß vorliegenden Gedichten, sosehr sie auch der Einbildungskraft gehören, doch ein historischer Grund, ein wahrhafter Inhalt eigen sei, so entsteht die Frage: inwiefern die Chronologie derselben auszumitteln möglich, d.h. hier: in welche Zeit das Faktum gesetzt, nicht aus welcher Zeit das Gedicht sei? eine Frage, die ohnehin bei mündlich überlieferten Gesängen sehr schwer zu beantworten sein möchte. Ein altes Faktum [277] ist da, wird erzählt, wird gesungen, wieder gesungen, wann zum ersten- oder zum letztenmal? bleibt unerörtert.
Und so wird sich denn auch jene Zeitrechnung serbischer Gedichte erst nach und nach ergeben; wenige scheinen vor Ankunft der Türken in Europa, vor 1355 sich auszusprechen, sodann aber bezeugen mehrere deutlich den Hauptsitz des türkischen Kaisers in Adrianopel; spätere fallen in die Zeit, wo nach Eroberung von Byzanz die türkische Macht den Nachbarn immer fühlbarer wurde; zuletzt sieht man in den neusten Tagen Türken und Christen friedlich durcheinander leben, durch Handel und Liebesabenteuer wechselseitig einwirkend.
Die ältesten zeichnen sich bei schon bedeutender Kultur durch abergläubisch-barbarische Gesinnungen aus; es finden sich Menschenopfer, und zwar von der widerwärtigsten Art. Eine junge Frau wird eingemauert, damit die Feste Skutari erbaut werden könne, welches um so roher erscheint, als wir im Orient nur geweihte Bilder gleich Talismanen an geheimgehaltenen Orten in den Grund der Burgen eingelegt finden, um die Unüberwindlichkeit solcher Schutz- und Trutzgebäude zu sichern.
Von kriegerischen Abenteuern sei nun billig vorerst die Rede. Ihr größter Held, Marko, der mit dem Kaiser zu Adrianopel in leidlichem Verhältnis steht, kann als ein rohes Gegenbild zu dem griechischenHerkules, dem persischen Rustan auftreten, aber freilich in skythisch höchst barbarischer Weise. Er ist der oberste und unbezwinglichste aller serbischen Helden, von grenzenloser Stärke, von unbedingtem Wollen und Vollbringen. Er reitet ein Pferd hundertundfunfzig Jahre und wird selbst dreihundert Jahr alt; er stirbt zuletzt bei vollkommenen Kräften und weiß selbst nicht, wie er dazu kommt.
Die frühste dieser Epochen sieht also ganz heidnisch aus, die mittleren Gedichte haben einen christlichen Anstrich; er ist aber eigentlich nur kirchlich. Gute Werke sind der einzige Trost dessen, der sich große Untaten nicht [278] verzeihen kann. Die ganze Nation ist eines poetischen Aberglaubens; gar manches Ereignis wird von Engeln durchflochten, dagegen keine Spur eines Satans; rückkehrende Tote spielen große Rollen; auch durch wunderliche Ahnungen, Weissagungen, Vögelbotschaften werden die wackersten Menschen verschüchtert.
Über alle jedoch und überall herrscht eine Art von unvernünftiger Gottheit. Durchaus waltet ein unwiderstehlich Schicksalswesen, in der Einöde hausend, Berg' und Wälder bewohnend, durch Ton und Stimme Weissagung und Befehl erteilend, Wila genannt, der Eule vergleichbar, aber auch manchmal in Frauengestalt erscheinend, als Jägerin höchst schön gepriesen, endlich sogar als Wolkensammlerin geltend: im allgemeinen aber von den ältesten Zeiten her, wie überhaupt alles sogenannte Schicksal, das man nicht zur Rede stellen darf, mehr schadend als wohltätig.
In der mittlern Zeit haben wir den Kampf mit den überhandnehmenden Türken zu beachten bis zur Schlacht vom Amselfelde 1389, welche durch Verrat verloren wird, worauf die gänzliche Unterjochung des Volkes nicht ausbleibt. Von den Kämpfen des Czerny Georg sind wohl auch noch dichterische Denkmale übriggeblieben; in der allerneusten Zeit schließen sich die Stoßseufzer der Sulioten unmittelbar an, zwar in griechischer Sprache, aber im allgemeinen Sinn unglücklicher Mittelnationen, die sich nicht in sich selbst zu gründen und gegen benachbarte Macht nicht ins Gleichgewicht zu setzen geeignet sind.
Die Liebeslieder, die man aber auch nicht einzeln, sondern in ganzer Masse an sich herannehmen, genießen und schätzen kann, sind von der größten Schönheit; sie verkünden vor allen Dingen ein ohne allen Rückhalt vollkommenes Genügen der Liebenden aneinander; zugleich werden sie geistreich, scherzhaft anmutig; gewandte Erklärung, von einer oder von beiden Seiten, überrascht und ergötzt; man ist klug und kühn, Hindernisse zu besiegen, [279] um zum ersehnten Besitz zu gelangen; dagegen wird eine schmerzlich empfundene unheilbare Trennung auch wohl durch Aussichten über das Grab hinüber beschwichtigt.
Alles, was es auch sei, ist kurz, aber zur Genüge dargestellt, meistens eingeleitet durch eine Naturschilderung, durch irgendein landschaftliches Gefühl oder Ahnung eines Elements. Immer bleiben die Empfindungen die wahrhaftesten. Ausschließliche Zärtlichkeit ist der Jugend gewidmet, das Alter verschmäht und hintangesetzt; allzu willige Mädchen werden abgelehnt und verlassen; dagegen erweist sich auch wohl der Jüngling flüchtig ohne Vorwand, mehr seinem Pferd als seiner Schönen zugetan. Hält man aber ernstlich und treulich zusammen, so wird gewiß die unwillkommene Herrschaft eines Bruders oder sonstiger Verwandten, wenn sie Wahl und Neigung stört, mit viel Entschlossenheit vernichtet.
Solche Vorzüge werden jedoch nur an und durch sich selbst erkannt, und es ist schon gewagt, die Mannigfaltigkeit der Motive und Wendungen, welche wir an den serbischen Liebesliedern bewundern, mit wenig Worten zu schildern, wie wir gleichwohl in Folgendem zu Anregung der Aufmerksamkeit zu tun uns nicht versagen.
1) Sittsamkeit eines serbischen Mädchens, welches die schönen Augenwimpern niemals aufschlägt; von unendlicher Schönheit. 2) Scherzhaft leidenschaftliche Verwünschung eines Geliebten. 3) Morgengefühl einer aufwachenden Liebenden; der Geliebte schläft so süß, sie scheut sich, ihn zu wecken. 4) Scheiden zum Tode; wunderbar: Rose, Becher und Schneeball. 5) Sarajewo durch die Pest verwüstet. 6) Verwünschung einer Ungetreuen. 7) Liebesabenteuer; seltsamlich: Mädchen im Garten. 8) Freundesbotschaft, der Verlobten gebracht durch zwei Nachtigallen, welche ihren dritten Gesellen, den Bräutigam, vermissen. 9) Lebensüberdruß über ein erzürntes Liebchen; drei Wehe sind ausgerufen. 10) Innerer Streit [280] des Liebenden, der als Brautführer seine Geliebte einem Dritten zuführen soll. 11) Liebeswunsch; ein Mädchen wünscht ihrem Geliebten als quellender Bach durch den Hof zu fließen. 12) Jagdabenteuer; gar wunderlich. 13) Besorgt um den Geliebten, will das Mädchen nicht singen, um nicht froh zu scheinen. 14) Klage über Umkehrung der Sitten, daß der Jüngling die Witwe freie, der Alte die Jungfrau. 15) Klage eines Jünglings, daß die Mutter der Tochter zu viel Freiheit gebe. 16) Das Mädchen schilt den Wankelmut der Männer. 17) Vertraulich-frohes Gespräch des Mädchens mit dem Pferde, das ihr seines Herrn Neigung und Absichten verrät. 18) Fluch dem Ungetreuen. 19) Wohlwollen und Sorge. 20) Die Jugend dem Alter vorgezogen; auf gar liebliche Weise. 21) Unterschied von Geschenk und Ring. 22) Hirsch und Wila; die Waldgöttin tröstet den liebekranken Hirsch. 23) Mädchen vergiftet ihren Bruder, um den Liebsten zu erlangen. 24) Mädchen will den Ungeliebten nicht. 25) Die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter den Gästen. 26) Liebevolle Rast nach Arbeit; sehr schön! es hält Vergleichung aus mit dem Hohenliede. 27) Gebundenes Mädchen, Kapitulation um Erlösung. 28) Zwiefache Verwünschung, ihrer eigenen Augen und des ungetreuen Liebhabers. 29) Vorzug des kleinen Mädchens und sonstiger Kleinheiten. 30) Finden und zartes Aufwecken der Geliebten. 31) Welches Gewerbes wird der Gatte sein? 32) Liebesfreuden verschwatzt. 33) Treu im Tode; vom Grabe aufblühende Pflanzen. 34) Abhaltung; die Fremde fesselt den Bruder, der die Schwester zu besuchen zögert. 35) Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet sie am Tage, überrascht sie zu Nacht. 36) Im Schnee geht das verlassene Mädchen, fühlt aber nur das erkältete Herz. 37) Drei Mädchen wünschen Ring, Gürtel, den Jüngling; die letzte hat das beste Teil erwählt. 38) Schwur zu entbehren, Reue deshalb. 39) Stille Neigung; höchst schön. 40) Die Vermählte, früher den Wiederkehrenden liebend. 41) Hochzeitanstalten, Überraschung der [281] Braut. 42) Eilig, neckisch. 43) Gehinderte Liebe, verwelkte Herzen. 44) Herzog Stephans Braut hintangesetzt. 45) Welches Denkmal dauert am längsten? 46) Klein und gelehrt. 47) Gatte über alles, über Vater, Mutter und Brüder; an den gerüsteten Gemahl. 48) Tödliche Liebeskrankeit. 49) Nah und versagt. 50) Wen nahm sich das Mädchen zum Vorbild? 51) Mädchen als Fahnenträger. 52) Die gefangene, bald befreite Nachtigall. 53) Serbische Schönheit. 54) Locken wirkt am sichersten. 55) Belgrad in Flammen.
Von der Sprache nunmehr mit wenigem das Nötige zu melden, hat seine besondere Schwierigkeit.
Die slawische teilt sich in zwei Hauptdialekte, den nördlichen und südlichen. Dem ersten gehört das Russische, Polnische, Böhmische, dem letzten fallen Slowenen, Bulgaren und Serben zu.
Die serbische Mundart ist also eine Unterabteilung des südslawischen Dialekts, sie lebt noch in dem Munde von fünf Millionen Menschen und darf unter allen südslawischen für die kräftigste geachtet werden.
Über ihre Vorzüge jedoch waltet in der Nation selbst ein Widerstreit; zwei Parteien stehen gegeneinander, und zwar folgendermaßen.
Die Serben besitzen eine alte Bibelübersetzung aus dem neunten Jahrhundert, geschrieben in einem verwandten Dialekt, dem altpannonischen. Dieser wird nun von der Geistlichkeit und allen, die sich den Wissenschaften widmen, als Sprachgrund und Muster angesehen; sie bedienen sich desselben im Reden, Schreiben und Verhandeln, fördern und begünstigen ihn; dagegen halten sie sich entfernt von der Sprache des Volks, schelten diese als abgeleitet von jenem und als Verderb des echten rechtmäßigen Idioms.
Betrachtet man aber diese Sprache des Volkes genauer, so erscheint sie in ursprünglicher Eigentümlichkeit, von jener im Grunde verschieden und in sich selbst lebendig, allem Ausdruck des tätigsten Wirkens und ebenso poetischer [282] Darstellung genügend. Die in derselben verfaßten Gedichte sind es, von denen wir sprechen, die wir loben, die aber von jenem vornehmern Teil der Nation geringgeschätzt werden; deswegen sie auch niemals aufgeschrieben, noch weniger abgedruckt worden. Daher rührte denn auch die Schwierigkeit, sie zu erlangen, welche viele Jahre unüberwindlich schien, deren Ursache uns aber jetzt erst, da sie gehoben ist, offenbar wird.
Um nun von meinem Verhältnis zu dieser Literatur zu reden, so muß ich vorerst gestehen, daß ich keinen der slawischen Dialekte, ohnerachtet mehrerer Gelegenheiten, mir jemals eigen gemacht noch studiert und also von aller Originalliteratur dieser großen Völkerschaften völlig abgeschlossen blieb, ohne jedoch den Wert ihrer Dichtungen, insofern solche zu mir gelangten, jemals zu verkennen.
Schon sind es funfzig Jahre, daß ich den »Klaggesang der edlen Frauen Asan Agas« übersetzte, der sich in des Abbate Fortis »Reise«, auch von da in den »Morlackischen Notizen« der Gräfin Rosenberg finden ließ. Ich übertrug ihn nach dem beigefügten Französischen, mit Ahnung des Rhythmus und Beachtung der Wortstellung des Originals. Gar manche Sendung erhielt ich auf lebhaftes Anfragen sodann von Gedichten sämtlicher slawischen Sprachen; jedoch nur einzeln sah ich sie vor mir, weder einen Hauptbegriff konnt ich fassen noch die Abteilungen charakteristisch sondern.
Was nun aber die serbischen Gedichte betraf, so blieb ihre Mitteilung aus oben gemeldeter Ursache schwer zu erlangen. Nicht geschrieben, sondern durch mündlichen Vortrag, den ein sehr einfaches Saiteninstrument, Gusle genannt, begleitet, waren sie in dem niedern Kreise der Nation erhalten worden; ja es ereignete sich der Fall, als man in Wien von einigen Serben verlangte, dergleichen Lieder zu diktieren, daß dieses Gesuch abgeschlagen wurde, weil die guten einfachen Menschen sich keinen Begriff machen konnten, wie man ihre kunstlosen, im eigenen Vaterlande von gebildeten [283] Männern verachteten Gesänge einigermaßen hochschätzen könne. Sie fürchteten vielmehr, daß man diese Naturlieder mit einer ausgebildeten deutschen Dichtkunst ungünstig zu vergleichen und dadurch den roheren Zustand ihrer Nation spöttisch kundzugeben gedenke. Von dem Gegenteil und einer ernstlichen Absicht überzeugte man sie durch die Aufmerksamkeit der Deutschen auf jenen »Klaggesang« und mochte denn wohl auch durch gutes Betragen die längst ersehnte Mitteilung, obgleich nur einzeln, hin und wieder erlangen.
Alles dieses war jedoch von keiner Folge, wenn nicht ein tüchtiger Mann, namens Wuk Stephanowitsch Karadschitsch, geboren 1787 und erzogen an der Scheide von Serbien und Bosnien, mit seiner Muttersprache, die auf dem Lande weit reiner als in den Städten geredet wird, frühzeitig vertraut geworden wäre und ihre Volkspoesie liebgewonnen hätte. Er benahm sich mit dem größten Ernst in dieser Sache und gab im Jahre 1814 in Wien eine serbische Grammatik an den Tag und zugleich serbische Volkslieder, hundert an der Zahl. Gleich damals erhielt ich sie mit einer deutschen Übersetzung, auch jener »Trauergesang« fand sich nunmehr im Original; allein wie sehr ich auch die Gabe werthielt, wie sehr sie mich erfreute, so konnt ich doch zu jener Zeit noch zu keinem Überblick gelangen. In Westen hatten sich die Angelegenheiten verwirrt, und die Entwicklung schien auf neue Verwirrung zu deuten; ich hatte mich nach Osten geflüchtet und wohnte in glücklicher Abgeschiedenheit eine Zeitlang entfernt von Westen und Norden.
Nun aber enthüllt sich diese langsam reifende Angelegenheit immer mehr und mehr. Herr Wuk begab sich nach Leipzig, wo er in der Breitkopf-Härtelischen Offizin drei Bände Lieder herausgab, von deren Gehalt oben gesprochen wurde, sodann Grammatik und Wörterbuch hinzufügte, wodurch denn dieses Feld dem Kenner und Liebhaber um vieles zugänglicher geworden.
[284] Auch brachte des werten Mannes Aufenthalt in Deutschland denselben in Berührung mit vorzüglichen Männern. Bibliothekar Grimm in Kassel ergriff mit der Gewandtheit eines Sprachgewaltigen auch das Serbische; er übersetzte die Wukische Grammatik und begabte sie mit einer Vorrede, die unsern obigen Mitteilungen zum Grunde liegt. Wir verdanken ihm bedeutende Übersetzungen, die in Sinn und Silbenmaß jenes Nationelle wiedergeben.
Auch Professor Vater, der gründliche und zuverlässige Forscher, nahm ernstlichen Teil, und so rückt uns dieses bisher fremd gebliebene und gewissermaßen zurückschreckende Studium immer näher.
Auf diesem Punkt nun, wie die Sachen gekommen sind, konnte nichts erfreulicher sein, als daß ein Frauenzimmer von besondern Eigenschaften und Talenten, mit den slawischen Sprachen durch einen frühern Aufenthalt in Rußland nicht unbekannt, ihre Neigung für die serbische entschied, sich mit aufmerksamster Tätigkeit diesem Liederschatz widmete und jener langwierigen Säumnis durch eine reiche Leistung ein Ende machte. Sie übersetzte, ohne äußeren Antrieb, aus innerer Neigung und Gutachten, eine große Masse der vorliegenden Gedichte und wird in einem Oktavband so viel derselben zusammenfassen, als man braucht, um sich mit dieser ausgezeichneten Dichtart hinreichend bekannt zu machen. An einer Einleitung wird's nicht fehlen, die das, was wir vorläufig hier eingeführt, genauer und umständlicher darlege, um einen wahren Anteil dieser verdienstvollen neuen Erscheinung allgemein zu fördern.
Die deutsche Sprache ist hiezu besonders geeignet; sie schließt sich an die Idiome sämtlich mit Leichtigkeit an, sie entsagt allem Eigensinn und fürchtet nicht, daß man ihr Ungewöhnliches, Unzulässiges vorwerfe; sie weiß sich in Worte, Wortbildungen, Wortfügungen, Redewendungen und was alles zur Grammatik und Rhetorik gehören mag, so wohl zu finden, daß, wenn man auch ihren Autoren bei [285] selbsteignen Produktionen irgendeine seltsamliche Kühnheit vorwerfen möchte, man ihr doch vorgeben wird, sie dürfe sich bei Übersetzung dem Original in jedem Sinne nahe halten.
Und es ist keine Kleinigkeit, wenn eine Sprache dies von sich rühmen darf: denn müssen wir es zwar höchst dankenswert achten, wenn fremde Völkerschaften dasjenige nach ihrer Art sich aneignen, was wir selbst innerhalb unseres Kreises Originelles hervorgebracht, so ist es doch nicht von geringerer Bedeutung, wenn Fremde auch das Ausheimische bei uns zu suchen haben. Wenn uns eine solche Annäherung ohne Affektation wie bisher nach mehrern Seiten hin gelingt, so wird der Ausheimische in kurzer Zeit bei uns zu Markte gehen müssen und die Waren, die er aus der ersten Hand zu nehmen beschwerlich fände, durch unsere Vermittelung empfangen.
Um also nun vom Allgemeinsten ins Besonderste zurückzukehren, dürfen wir ohne Widerrede behaupten: daß die serbischen Lieder sich in deutscher Sprache besonders glücklich ausnehmen. Wir haben mehrere Beispiele vor uns, Wuk Stephanowitsch übersetzte uns zuliebe mehrere derselben wörtlich, Grimm auf seinem Wege war geneigt, sie im Silbenmaße darzustellen; auch Vatern sind wir Dank schuldig, daß er uns das wichtigste Gedicht: die »Hochzeit des Maxim Cernojewitsch« im Auszuge prosaisch näherbrachte, und so verdanken wir denn auch der raschen, unmittelbar einwirkenden Teilnahme unserer Freundin schnell eine weitere Umsicht, die, wie wir hoffen, das Publikum bald mit uns teilen wird.
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