Sechster Brief
Unser würdiger Freund läßt mich an seinem Schreibtisch niedersitzen, und ich danke ihm sowohl für dieses Vertrauen als für den Anlaß, den er mir gibt, mich mit Ihnen zu unterhalten. Er nennt mich den Philosophen, er würde mich den Schüler nennen, wenn er wüßte, wie sehr ich mich zu bilden, wie sehr ich zu lernen wünsche. Doch leider hat man schon vor den Menschen, wenn man sich nur auf gutem Wege glaubt, ein anmaßliches Ansehen.
Daß ich gestern abend mich in ein Gespräch über bildende Kunst lebhaft einmischte, da mir das Anschauen derselben fehlt und ich nur einige literarische Kenntnisse davon besitze, werden Sie mir verzeihen, wenn Sie meine Relation vernehmen und daraus ersehen, daß ich bloß im Allgemeinen geblieben bin, daß ich mein Befugnis, mitzureden, mehr auf einige Kenntnis der alten Poesie gegründet habe.
[239] Ich will nicht leugnen, daß die Art, wie der Gegner mit meinem Freunde verfuhr, mich entrüstete. Ich bin noch jung, entrüste mich vielleicht zur Unzeit und verdiene um desto weniger den Titel eines Philosophen. Die Worte des Gegners griffen mich selbst an; denn wenn der Kenner, der Liebhaber der Kunst das Schöne nicht aufgeben darf, so muß der Schüler der Philosophie sich das Ideal nicht unter die Hirngespinste verweisen lassen.
Nun, so viel ich mich erinnere, wenigstens den Faden und den allgemeinen Inhalt des Gesprächs.
Ich: Erlauben Sie, daß ich auch ein Wort einrede !
Der Gast (etwas schnöde): Von Herzen gern und wo möglich nichts von Luftbildern.
Ich: Von der Poesie der Alten kann ich einige Rechenschaft geben, von der bildenden Kunst habe ich wenige Kenntnis.
Der Gast: Das tut mir leid! so werden wir wohl schwerlich näher zusammenkommen.
Ich: Und doch sind die schönen Künste nahe verwandt, die Freunde der verschiedensten sollten sich nicht mißverstehn.
Oheim: Lassen Sie hören.
Ich: Die alten Tragödienschreiber verfuhren mit dem Stoff, den sie bearbeiteten, völlig wie die bildenden Künstler, wenn anders diese Kupfer, welche die Familie der Niobe vorstellen, nicht ganz vom Original abweichen.
Gast: Sie sind leidlich genug, sie geben nur einen unvollkommenen, nicht einen falschen Begriff.
Ich: Nun! dann können wir sie insofern zum Grunde legen.
Oheim: Was behaupten Sie von dem Verfahren der alten Tragödienschreiber?
Ich: Sie wählen sehr oft, besonders in der ersten Zeit, unerträgliche Gegenstände, unleidliche Begebenheiten.
Gast: Unerträglich wären die alten Fabeln?
[240] Ich: Gewiß! ungefähr wie Ihre Beschreibung des Laokoon.
Gast: Diese finden Sie also unerträglich?
Ich: Verzeihen Sie! nicht Ihre Beschreibung, sondern das Beschriebene.
Gast: Also das Kunstwerk?
Ich: Keinesweges! aber das, was Sie darin gesehen haben. Die Fabel, die Erzählung, das Skelett, das, was Sie charakteristisch nennen. Denn wenn Laokoon wirklich so vor unsern Augen stünde, wie Sie ihn beschreiben, so wäre er wert, daß er den Augenblick in Stücken geschlagen würde.
Gast: Sie drücken sich stark aus.
Ich: Das ist wohl einem wie dem andern erlaubt.
Oheim: Nun also zu dem Trauerspiele der Alten.
Gast: Zu den unerträglichen Gegenständen.
Ich: Ganz recht! aber auch zu der alles erträglich, leidlich, schön, anmutig machenden Behandlung.
Gast: Das geschähe denn also wohl durch Einfalt und stille Größe?
Ich: Wahrscheinlich.
Gast: Durch das mildernde Schönheitsprinzip?
Ich: Es wird wohl nicht anders sein.
Gast: Die alten Tragödien wären also nicht schrecklich?
Ich: Nicht leicht, soviel ich weiß, wenn man den Dichter selbst hört. Freilich, wenn man in der Poesie nur den Stoff erblickt, der dem Gedichteten zum Grund liegt, wenn man vom Kunstwerke spricht, als hätte man an seiner Statt die Begebenheiten in der Natur erfahren, dann lassen sich wohl sogar Sophokleische Tragödien als ekelhaft und abscheulich darstellen.
Gast: Ich will über Poesie nicht entscheiden.
Ich: Und ich nicht über bildende Kunst.
Gast: Ja, es ist wohl das beste, daß jeder in seinem Fache bleibt.
Ich: Und doch gibt es einen allgemeinen Punkt, in welchem die Wirkungen aller Kunst, redender sowohl als bildender, [241] sich sammeln, aus welchem alle ihre Gesetze ausfließen.
Gast: Und dieser wäre?
Ich: Das menschliche Gemüt.
Gast: Ja! ja! es ist die Art der neuen Herren Philosophen, alle Dinge auf ihren eignen Grund und Boden zu spielen, und bequemer ist es freilich, die Welt nach der Idee zu modeln, als seine Vorstellungen den Dingen zu unterwerfen.
Ich: Es ist hier von keinem metaphysischen Streite die Rede.
Gast: Den ich mir auch verbitten wollte.
Ich: Die Natur, will ich einmal zugeben, lasse sich unabhängig von dem Menschen denken, die Kunst bezieht sich notwendig auf denselben: denn die Kunst ist nur durch den Menschen und für ihn.
Gast: Wozu soll das führen?
Ich: Sie selbst, indem Sie der Kunst das Charakteristische zum Ziel setzen, bestellen den Verstand, der das Charakteristische erkennt, zum Richter.
Gast: Allerdings tue ich das. Was ich mit dem Verstand nicht begreife, existiert mir nicht.
Ich: Aber der Mensch ist nicht bloß ein denkendes, er ist zugleich ein empfindendes Wesen. Er ist ein Ganzes, eine Einheit vielfacher, innig verbundner Kräfte, und zu diesem Ganzen des Menschen muß das Kunstwerk reden, es muß dieser reichen Einheit, dieser einigen Mannigfaltigkeit in ihm entsprechen.
Gast: Führen Sie mich nicht in diese Labyrinthe, denn wer vermöchte uns herauszuhelfen.
Ich: Da ist es denn freilich am besten, wir heben das Gespräch auf, und jeder behauptet seinen Platz.
Gast: Auf dem meinigen wenigstens stehe ich feste.
Ich: Vielleicht fände sich noch geschwind ein Mittel, daß einer den andern auf seinem Platze wo nicht besuchen, doch wenigstens beobachten könnte.
Gast: Geben Sie es an.
[242] Ich: Wir wollen uns die Kunst einen Augenblick im Entstehen denken.
Gast: Gut.
Ich: Wir wollen das Kunstwerk auf dem Wege zur Vollkommenheit begleiten.
Gast: Nur auf dem Wege der Erfahrung mag ich Ihnen folgen! Die steilen Pfade der Spekulation verbitte ich mir.
Ich: Sie erlauben, daß ich ganz von vorn anfange.
Gast: Recht gern.
Ich: Der Mensch fühlt eine Neigung zu irgendeinem Gegenstand. Sei es ein einzelnes, belebtes Wesen.
Gast: Also etwa zu diesem artigen Schoßhunde.
Julie: Komm, Bello! es ist keine geringe Ehre, als Beispiel zu einer solchen Abhandlung gebraucht zu werden.
Ich: Fürwahr, der Hund ist zierlich genug! und fühlte der Mann, den wir annehmen, einen Nachahmungstrieb, so würde er dieses Geschöpf auf irgendeine Weise darzustellen suchen; lassen Sie aber auch seine Nachahmung recht gut geraten, so werden wir doch nicht sehr gefördert sein, denn wir haben nun allenfalls nur zwei Bellos für einen.
Gast: Ich will nicht einreden, sondern erwarten, was hieraus entstehen soll.
Ich: Nehmen Sie an, daß dieser Mann, den wir wegen seines Talents nun schon einen Künstler nennen, sich hierbei nicht beruhigte, daß ihm seine Neigung zu eng, zu beschränkt vorkäme, daß er sich nach mehr Individuen, nach Varietäten, nach Arten, nach Gattungen umtäte, dergestalt, daß zuletzt nicht mehr das Geschöpf, sondern der Begriff des Geschöpfs vor ihm stünde und er diesen endlich durch seine Kunst darzustellen vermöchte.
Gast: Bravo! Das würde mein Mann sein. Das Kunstwerk würde gewiß charakteristisch ausfallen.
Ich: Ohne Zweifel.
[243] Gast: Und ich würde mich dabei beruhigen und nichts weiter fordern.
Ich: Wir andern aber steigen weiter.
Gast: Ich bleibe zurück.
Oheim: Zum Versuche gehe ich mit.
Ich: Durch jene Operation möchte allenfalls ein Kanon entstanden sein, musterhaft, wissenschaftlich schätzbar; aber nicht befriedigend fürs Gemüt.
Gast: Wie wollen Sie auch den wunderlichen Forderungen dieses lieben Gemüts genugtun?
Ich: Es ist nicht wunderlich, es läßt sich nur seine gerechten Ansprüche nicht nehmen. Eine alte Sage berichtet uns, daß die Elohim einst untereinander gesprochen: »Lasset uns den Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei«, und der Mensch sagte daher mit vollem Recht: »Lasset uns Götter ma chen, Bilder, die uns gleich seien.«
Gast: Wir kommen hier schon in eine sehr dunkle Region.
Ich: Es gibt nur ein Licht, uns hier zu leuchten.
Gast: Das wäre?
Ich: Die Vernunft.
Gast: Inwiefern sie ein Licht oder ein Irrlicht sei, ist schwer zu bestimmen.
Ich: Nennen wir sie nicht; aber fragen wir uns die Forderungen ab, die der Geist an ein Kunstwerk macht. Eine beschränkte Neigung soll nicht nur ausgefüllt, unsere Wißbegierde nicht etwa nur befriedigt, unsere Kenntnis nur geordnet und beruhigt werden; das Höhere, was in uns liegt, will erweckt sein, wir wollen verehren und uns selbst verehrungswürdig fühlen.
Gast: Ich fange an, nichts mehr zu verstehen.
Oheim: Ich aber glaube einigermaßen folgen zu können. Wie weit ich mitgehe, will ich durch ein Beispiel zeigen. Nehmen wir an, daß jener Künstler einen Adler in Erz gebildet habe, der den Gattungsbegriff vollkommen ausdrückte; nun wollte er ihn aber auf den Zepter Jupiters [244] setzen. Glauben Sie, daß er dahin vollkommen passen würde?
Gast: Es käme darauf an.
Oheim: Ich sage nein! Der Künstler müßte ihm vielmehr noch etwas geben.
Gast: Was denn?
Oheim: Das ist freilich schwer auszudrücken.
Gast: Ich vermute.
Ich: Und doch ließe sich vielleicht durch Annäherung etwas tun.
Gast: Nur immer zu.
Ich: Er müßte dem Adler geben, was er dem Jupiter gab, um diesen zu einem Gott zu machen.
Gast: Und das wäre?
Ich: Das Göttliche, das wir freilich nicht kennen würden, wenn es der Mensch nicht fühlte und selbst hervorbrächte.
Gast: Ich behaupte immer meinen Platz und lasse Sie in die Wolken steigen. Ich sehe recht wohl, Sie wollen den hohen Stil der griechischen Kunst bezeichnen, den ich aber auch nur insofern schätze, als er charakteristisch ist.
Ich: Für uns ist er noch etwas mehr, er befriedigt eine hohe Forderung, die aber doch noch nicht die höchste ist.
Gast: Sie scheinen sehr ungenügsam zu sein.
Ich: Dem, der viel erlangen kann, geziemt viel zu fordern. Lassen Sie mich kurz sein! Der menschliche Geist befindet sich in einer herrlichen Lage, wenn er verehrt, wenn er anbetet, wenn er einen Gegenstand erhebt und von ihm erhoben wird; allein er mag in diesem Zustand nicht lange verharren, der Gattungsbegriff ließ ihn kalt, das Ideale erhob ihn über sich selbst; nun aber möchte er in sich selbst wieder zurückkehren, er möchte jene frühere Neigung, die er zum Individuo gehegt, wieder genießen, ohne in jene Beschränktheit zurückzukehren, und will auch das Bedeutende, das Geisterhebende nicht fahrenlassen. [245] Was würde aus ihm in diesem Zustande werden, wenn die Schönheit nicht einträte und das Rätsel glücklich löste! Sie gibt dem Wissenschaftlichen erst Leben und Wärme, und indem sie das Bedeutende, Hohe mildert und himmlischen Reiz darüber ausgießt, bringt sie es uns wieder näher. Ein schönes Kunstwerk hat den ganzen Kreis umlaufen, es ist nun wieder eine Art Individuum, das wir mit Neigung umfassen, das wir uns zueignen können.
Gast: Sind Sie fertig?
Ich: Für diesmal! der kleine Kreis ist geschlossen, wir sind wieder da, wo wir ausgegangen sind, das Gemüt hat gefordert, das Gemüt ist befriedigt, und ich habe weiter nichts zu sagen. (Der gute Oheim ward zu einem Kranken dringend abgerufen.)
Gast: Es ist die Art der Herren Philosophen, daß sie sich hinter sonderbaren Worten, wie hinter einer Ägide, im Streite einherbewegen.
Ich: Diesmal kann ich wohl versichern, daß ich nicht als Philosoph gesprochen habe, es waren lauter Erfahrungssachen.
Gast: Das nennen Sie Erfahrung, wovon ein anderer nichts begreifen kann!
Ich: Zu jeder Erfahrung gehört ein Organ.
Gast: Wohl ein besonderes?
Ich: Kein besonderes, aber eine gewisse Eigenschaft muß es haben.
Gast: Und die wäre?
Ich: Es muß produzieren können.
Gast: Was produzieren?
Ich: Die Erfahrung! Es gibt keine Erfahrung, die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird.
Gast: Nun, das ist arg genug !
Ich: Besonders gilt es von dem Künstler.
Gast: Fürwahr! Was wäre nicht ein Porträtmaler zu beneiden, was würde er nicht für Zulauf haben, wenn er [246] seine sämtlichen Kunden produzieren könnte, ohne sie mit so mancher Sitzung zu inkommodieren!
Ich: Vor dieser Instanz fürchte ich mich gar nicht, ich bin vielmehr überzeugt: kein Porträt kann etwas taugen, als wenn es der Maler im eigentlichsten Sinne erschafft.
Gast (aufspringend): Das wird zu toll! Ich wollte, Sie hätten mich zum besten und das alles wäre nur Spaß! Wie würde ich mich freuen, wenn das Rätsel sich dergestalt auflöste! Wie gern würde ich einem wackern Mann, wie Sie sind, die Hand reichen!
Ich: Leider ist es mein völliger Ernst! und ich kann mich weder anders finden noch fügen.
Gast: Nun, so dichte ich, wir reichten einander zum Abschied wenigstens die Hände; besonders da unser Herr Wirt sich entfernt hat, der doch noch allenfalls den Präsidenten bei unserer lebhaften Disputation machen konnte. Leben Sie wohl, Mademoiselle! Leben Sie wohl, mein Herr! Ich lasse morgen anfragen, ob ich wieder aufwarten darf.
So stürmte er zur Türe hinaus, und Julie hatte kaum Zeit, ihm die Magd, die sich mit der Laterne parat hielt, nachzuschicken. Ich blieb mit dem liebenswürdigen Kinde allein. Karoline hatte sich schon früher entfernt. Ich glaube, es war nicht lange hernach, als mein Gegner die reine Schönheit ohne Charakter für fade erklärt hatte.
»Sie haben es arg gemacht, mein Freund«, sagte Julie nach einer kurzen Pause. »Wenn er mir nicht ganz recht zu haben scheint, so kann ich Ihnen doch auch unmöglich durchaus Beifall geben; denn es war doch wohl bloß, um ihn zu necken, als Sie zuletzt behaupteten: der Porträtmaler müsse das Bildnis ganz eigentlich erschaffen.«
»Schöne Julie«, versetzte ich darauf, »wie sehr wünschte ich, mich Ihnen hierüber verständlich zu machen! Vielleicht gelingt es mir mit der Zeit! Aber Ihnen, deren lebhafter [247] Geist sich in alle Regionen bewegt, die den Künstler nicht allein schätzt, sondern ihm gewissermaßen zuvoreilt und selbst das, was Sie nicht mit Augen gesehen, sich, als stünde es vor ihr, zu vergegenwärtigen weiß, Sie sollten am wenigsten stutzen, wenn vom Schaffen, vom Hervorbringen die Rede ist.«
Julie: Ich merke, Sie wollen mich bestechen. Es wird Ihnen leicht werden, denn ich höre Ihnen gern zu.
Ich: Lassen Sie uns vom Menschen würdig denken, und bekümmern wir uns nicht, ob es ein wenig bizarr klingt, was wir von ihm sagen. Gibt doch jedermann zu, daß der Poet geboren werden müsse! Schreibt nicht jedermann dem Genie eine schaffende Kraft zu, und niemand glaubt dadurch eben etwas Paradoxes zu sagen. Wir leugnen es nicht von den Werken der Phantasie; aber wahrlich, der untätige, untaugende Mensch wird das Gute, das Edle, das Schöne weder an sich noch an andern gewahr werden! Wo käme es denn her, wenn es nicht aus uns selbst entspränge? Fragen Sie Ihr eigen Herz! ist nicht die Handelsweise zugleich mit dem Handeln ihm eingeboren? Ist es nicht die Fähigkeit zur guten Tat, die sich der guten Tat erfreut? Wer fühlt lebhaft ohne den Wunsch, das Gefühlte darzustellen? und was stellen wir denn eigentlich dar, was wir nicht erschaffen? und zwar nicht etwa nur ein für allemal, damit es da sei, sondern damit es wirke, immer wachse und wieder werde und wieder hervorbringe. Das ist ja eben die göttliche Kraft der Liebe, von der man nicht aufhört zu singen und zu sagen, daß sie in jedem Augenblick die herrlichen Eigenschaften des geliebten Gegenstandes neu hervorbringt, in den kleinsten Teilen ausbildet, im ganzen umfaßt, bei Tage nicht rastet, bei Nacht nicht ruht, sich an ihrem eignen Werke entzückt, über ihre eigne rege Tätigkeit erstaunt, das Bekannte immer neu findet, weil es in jedem Augenblicke, in dem süßesten aller Geschäfte wieder neu erzeugt wird. Ja, das Bild der Geliebten kann [248] nicht alt werden, denn jeder Moment ist seine Geburtsstunde.
Ich habe heute sehr gesündigt, ich handelte gegen meinen Vorsatz, indem ich über eine Materie sprach, die ich nicht ergründet habe, und in diesem Augenblick bin ich auf dem Wege, noch strafwürdiger zu fehlen. Schweigen gebührt dem Menschen, der sich nicht vollendet fühlt. Schweigen geziemt auch dem Liebenden, der nicht hoffen darf, glücklich zu sein. Lassen Sie mich von hinnen gehen, damit ich nicht doppelt scheltenswert sei.
Ich ergriff Juliens Hand, ich war sehr bewegt, sie hielt mich freundlich fest. Ich darf es sagen. Gebe der Himmel, daß ich mich nicht geirrt habe, daß ich mich nicht irre !
Doch ich fahre in meiner Erzählung fort, der Oheim kam zurück. Er war freundlich genug, das an mir zu loben, was ich an mir tadelte, war zufrieden, daß meine Ideen über bildende Kunst mit den seinigen zusammenträfen. Er versprach, mir in kurzer Zeit die Anschauung zu verschaffen, deren ich bedürfen könnte. Julie sagte mir scherzend auch ihren Unterricht zu, wenn ich gesprächiger, wenn ich mitteilender werden wollte – und ich fühle schon recht gut, daß sie alles aus mir machen kann, was sie will.
Die Magd kam zurück, die dem Fremden geleuchtet hatte, sie war sehr vergnügt über seine Freigebigkeit, denn er hatte ihr ein ansehnliches Trinkgeld gegeben; noch mehr aber lobte sie seine Artigkeit. Er hatte sie mit freundlichen Worten entlassen und sie obendreinschönes Kind genannt.
Ich war nun eben nicht im Humor, ihn zu schonen, und rief aus: »O ja! das kann einem leicht passieren, der das Ideal verleugnet, daß er das Gemeine für schön erklärt !«
[249] Julie erinnerte mich scherzend: daß Gerechtigkeit und Billigkeit auch ein Ideal sei, wornach der Mensch zu streben habe.
Es war spät geworden, der Oheim bat mich um einen Dienst, durch den ich mir zugleich selbst dienen sollte: er gab mir eine Abschrift jenes Briefes an Sie, meine Herren, worin er die verschiedenen Liebhabereien zu bezeichnen suchte. Er gab mir Ihre Antwort, verlangte, daß ich beides geschwind studieren, meine Gedanken darüber zusammenfassen und alsdann gegenwärtig sein machte, wenn die angemeldeten Fremden sein Kabinett besuchten, um zu sehen, ob wir noch mehr Klassen entdecken und aufzeichnen könnten. Ich habe den Überrest der Nacht damit zugebracht und ein Schema aus dem Stegreif verfertigt, das, wo nicht gründlich, doch wenigstens lustig ist und das für mich einen großen Wert hat, weil Julie heute früh herzlich darüber lachen konnte.
Leben Sie recht wohl! Ich merke, daß dieser Brief mit dem Briefe des guten Oheims, der noch hier auf dem Schreibtische liegt, zugleich fortkann. Nur flüchtig habe ich das Geschriebene wieder überlesen dürfen. Wie manches wäre anders zu sagen, wie manches besser zu bestimmen gewesen! Ja, wenn ich meinem Gefühl nachginge, so sollten diese Blätter eher ins Feuer als auf die Post. Aber wenn nur das Vollendete mitgeteilt werden sollte, wie schlecht würde es überhaupt um Unterhaltung aussehen! Indessen soll unser Gast gesegnet sein, daß er mich in eine Leidenschaft versetzte, daß er mich in eine Aufwallung brachte, die mir diese Unterhaltung mit Ihnen verschaffte und zu neuen, schönen Verhältnissen Anlaß gab.