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An Christian Heinrich Schlosser

[Concept.]

Dießmal gehört ein Entschluß dazu, Ihnen nach einer so langen Pause zu schreiben. Die mancherley Übel und Unbilden, die mich betroffen, haben mich an vielem Guten gehindert, und das zu Anfang des Jahres rasch unternommene Gute verspätet. Die neusten Welt- und Kriegsbegebenheiten trüben auch meinen Blick, wenn ich ihn jener Gegend zuwende, wo ich vor einem Jahr so viele Liebe und Freude genossen, wenn ich mir vorstelle, daß Ihre verehrte Frau Mutter vielleicht noch eine beschwerlichere Einquartirung zu befürchten hat als die meinige war, und die doch mit nicht so reinen Segenswünschen und ewig zu empfindender Dankbarkeit scheidet. Empfehlen Sie mich ihr und den theuern Ihrigen zum besten. Leider vermindert sich auch die Hoffnung, Sie dieses Jahr wiederzusehn. Am Ende dieses Monats wirds sich's entscheiden, ob ich das heilsame Bad auch unter weniger günstigen Auspicien benutzen kann.

Auf Ihr werthes Schreiben vom 20. März erwidere Folgendes. Da meine Frau nach Carlsbad [299] geht, würde die Anschaffung jener Sammlung gar wohl geschehen können und da sie solche auf ihrem leichten Wagen nicht mit herausbringen kann, so ließe man sie auf Dresden gehn, von da hierher u.s.w. Dieses alles wollt ich gern besorgen, wär ich nur überzeugt, daß solches zu Ihrem wahren Nutzen gereichte. Allein jene Sammlung ist ein Specialissimum, nur demjenigen diensam, der es in ein schon erkanntes Allgemeines einschließt. Auch bin ich im Stande, Ihnen grade die wichtigsten Stücke von hier aus mitzutheilen, indem ich manches doppelt oder in großen Exemplaren besitze, wovon gar wohl ein kleineres abgeschlagen werden kann.

Was ich für Sie gegenwärtig für das Räthlichste halte, ist, wenn Sie Sich die beyden, auf beyliegendem Blättchen unterstrichenen Sammlungen anschafften, zwey Schränke machen ließen, groß genug um die 200 oryktognostischen und die 100 geognostischen Exemplare darin weitläufig auseinanderzulegen. Sie erhalten dadurch sogleich ein Fachwerk, wo Sie alles, was Ihnen aus diesem Reiche zukommt, dazwischen legen können, Sie haben Cataloge nach der neusten Terminologie, welche mit den Leonhardischen Tabellen, dem Taschenbuch und den übrigen Schriften und Arbeiten genau zusammentrifft, und dieses alles um ein geringes Geld. Hätte ich dergleichen vor vierzig Jahren haben können, so wäre manche saure Mühe ja manche hundert Thaler erspart worden. Es dient [300] auch zu besserer Communication unter uns beyden, wenn ich weiß, daß die mir bekannten Systeme bey Ihnen in der Ordnung liegen, wie bey mir, und ich seh mich im Stand, Ihnen recht interessante Beyträge zu schicken. Die Carlsbader Sachen werden alsdann ihren rechten Platz finden.

Die den Chladnischen so nahverwandten Seebeckischen Figuren geben uns allerdings eine äußerst heitere Aussicht in die Natur, welche nach allen Seiten hin als unendlich und doch immer als Eins angeschaut wird. Das Instrument ist so vollkommen, daß der große Capellmeister von Ewigkeit zu Ewigkeit gar bequem darauf spielen kann.

Um die herrliche Gelegenheit sich in Kunstsachen umzusehen, zu erfreuen und zu belehren, habe ich alle Ursache Sie zu beneiden. Ich muß mich damit begnügen, daß ich das zu ordnen suche, was sich unter meinem Dach befindet. Ein trefflich geschnittener Stein mit dem ich zu siegeln gedenke ist mir unterdessen an den Finger gekommen, Sie werden sich des schönen Gedankens und der geschmackvollen Ausführung gewiß erfreuen.

Und so lege ich denn auch die schon längst geschriebenen Blätter bey, entscheiden Sie, ob meine Sorge einigen Grund hatte, und fahren Sie fort in diesem holden und bedeutenden Fache mir Ihre Gedanken und Ansichten mitzutheilen. Morgen kommt die Musik einmal wieder bey uns mit recht bedeutender[301] Erscheinung heran: Achill von Paer wird, zum größten Theil sehr gut besetzt, in italiänischer Sprache, gegeben. Möchten Sie doch diesen Abend unser Gast seyn! Das herzlichste Lebewohl!

Weimar d. 5. May 15.


[Beilage.]

Meine Tabellen werden mir nun erst lieb, und ich segne den Gedanken sie Ihnen ohne weiteres zugeschickt zu haben und erwidere gleich soviel als nöthig ist, um die Übereinstimmungen sowohl unserer Denkweise, als die Verschiedenheit derselben in's Klare zu setzen.

Die 12 mit Nummern bezeichneten Puncte geben einen Beweis wie ernstlich und gründlich Sie Sich mit der Sache abgeben, und wie schön Sie solche aus dem Innern zu entwickeln trachten. Hier finde ich nichts was mir widerstrebte, vielmehr mag ich es gern der Betrachtung zu Grunde legen. Eigentlich beurtheilen kann ich's nicht weil mir die schöne Tonwelt gewissermaßen ganz fremd geworden. Zugleich bemerke ich daß die aus der Farbenlehre angeführten Parallelstellen mir vollkommen passend, aufklärend und begründend scheinen.

Die folgenden Puncte die Sie mit Buchstaben bezeichnet enthalten dagegen manches meiner Überzeugung widerstrebendes, ja es sind Äußerungen darin die ich untereinander selbst nicht in Harmonie bringen kann. Da Sie eine Abschrift Ihres Briefes haben,[302] so führe ich ihn nur stellenweise an, mit meinem Bemerkungen an der Seite:

[Aus Schlossers Brief:]


a) Der sogenannte Gegensatz zwischen Dur und Moll, ist keineswegs ein ursprünglicher, sondern ein abgeleiteter; weder die Kunst noch die Wissenschaft ist auf ihn zu gründen. Er ist dasselbe und nichts als dasselbe


Die roth unterstrichenen Ausdrücke vermeide ich in wissenschaftlichen Aufsätzen. Es klingt gleich so apodiktisch, daß man den Leser dadurch unwillig macht. Die doppelt unterstrichenen Worte finde ich hier um so weniger an ihrer Stelle als hierauf ein Gleichniß folgt, welches gerade das Gegentheil von dem Behaupteten darthut:


als was in dem prismatischen die Verkehrung eines Lichten im schattigen Grunde zu der Verkehrung des Schattigen im lichten Grunde ist.


Wenn dieses Gleichniß passen soll so wird ja dadurch zugegeben, daß beyde Phänomene von gleichem Werth sind, daß sie beyde in der Natur liegen, daß nur auf sie beyde, und zwar auf ihr Wechselverhältniß die Farbenlehre gegründet werden kann; folglich mußte auch die Tonlehre, wo nicht auf unser jetziges Dur und Moll, doch gewiß auf ein Analogon desselben gegründet werden. Sollte es daher wohl verantwortet werden können, wenn hinzugefügt wird:


Die ewige Naturordnung wird nicht von ihm berührt.

Sie machen nunmehr selbst einen Versuch dieses Analogon des Molltones zu finden.

[303] Das Phänomen, [daß bey energischer Erscheinung des Dreyklanges, man nehme an auf C, als dem Grundtone, nach unten F, und as mitbeben, muß wie in No. 7 erklärt werden. F ist die reine Quinte unter C, wie as die grose Terz unter C ist. Von C an muß dabey gerechnet werden, und nicht von F. Bebte die harmonische Septime mit, so würde diese nicht von e, sondern von d herzuleiten seyn und unter F fallen müssen,] nicht über F.


Ich wünsche nichts mehr als daß Sie auf diesem Wege fortarbeiten.


Dieses ganze Phänomen ist weiter gar nichts,

Das roth unterstrichene Wort kann ich an dieser Stelle auch nicht billigen.

als was bey energischem Eintreten des Farbenbildes der doppelte Regenbogen ist.


Hierbey muß ich bemerken daß der Regenbogen hier als Gleichniß steht, und nicht als ein Parallelphänomen zu dem Gesagten. Lasse ich es jedoch gelten, so spricht es für meine Behauptung, denn die beyden Regenbogen sind nothwendige Correlata, keiner besteht ohne den andern, virtualiter sind sie immer zugleich da, obgleich in der zufälligen Erscheinung der Untere manchmal allein und also öfterer gesehen wird. Beyde zusammen sind in der ewigen Natur gegründet, und wenn Gott den Urvater Noah auf einen Regenbogen aufmercksam machte; so war es gewiß ein doppelter.

Sie fahren fort:


Will man den Grund [des sogenannten Moll suchen, so liegt er, wie oben bey der Verkehrung des Lichten in [304] schattigem Grunde gesagt wurde, innerhalb der Tonmonade selbst. Die grose Terz des Grundtones verhält sich nehmlich zu der reinen Quinte desselben, als eine kleine Terz; und kehrt auf diese Weise die] Erscheinung in sich selber um.


Hier treffen wir nun völlig zusammen, indem Sie aussprechen, der Grund des sogenannten Moll liegt innerhalb der Tonmonade selbst. Dieß ist mir aus der Seele gesprochen. Zur nähern Entwicklung dieses Urgegensatzes bahnte vielleicht Folgendes den nähern Weg. Dehnt sich die Tonmonade aus, so entspringt das Dur, zieht sie sich zusammen, so entsteht das Moll. Diese Entstehung habe ich in der Tabelle, wo die Töne als eine Reihe betrachtet sind, durch Steigen und Fallen ausgedrückt; beyde Formeln lassen sich dadurch vereinigen, daß man den unvernehmlichen tiefsten Ton als innigstes Centrum der Monade, den unvernehmbaren höchsten als Peripherie derselben ansieht.


b) die wichtige Lehre [von der Harmonie und Melodie erhalten daher folgende Bestimmung.

Im weitesten Sinne ist alles harmonisch, weil jeder Klang Dreyklang ist. Empirisch harmonisch nennen wir, wo bey mäsiger Erwekkung des Dreyklangs man die ihn constituirenden Töne nicht nur mitbeben läßt, sondern mit anschlägt und deutlich hörbar macht.

Melodisch ist dagegen wo, bey auseinander folgenden Dreyklängen, wir nur ein Glied dieser Dreyklänge würklich anschlagen, und deutlich hörbar machen.

Dadurch wird gleich das grose Gesezz begreiflich, daß nichts melodisch richtig seyn könne, was nicht auch] harmonisch richtig sey.


[305] Diese Stelle muß ich freudig anerkennen.


c) Vorzüglich wichtig [werden obige Säzze für Constituirung der so genannten diatonischen Tonleiter (in Dur, denn nur der Durton liegt in der Natur) die so wie sie numerisch, oder wie man sagt melodisch erklärt werden soll, von Willkühr in Willkühr führt, und nirgends tief fuset.

Ihre wahre Begründung in der Natur ist folgende.

Der positiv constituirende Pol des natürlichen Dreyklanges, ist Grundton und Quinte. Die lezztere auf direkte und indirekte Weise. Der Grundton seyC, so sind also die Quinten G und F. Nun giebt es aber keinen Klang in der Natur, es sey denn der natürliche Dreyklang. Die Verwandtschaften des Grundtones C, die Töne die mit und in ihm leben, weben und sind, sind also die Dreyklänge G, undF.

Diese Dreyklänge heißen, C. E. G.

G. H. D.

F. A. C.,

sie nun in melodische Ordnung gebracht, innerhalb der Weite in welcher der Grundton wiederkehrt, bilden die diatonische Skala

Grundtöne der jedesmal drüberstehenden melodischen Glieder der Dreyklänge.

Hier sieht man denn deutlich wie richtig die Behauptung bey der Folgerung a ist. F so wie es als Grundton, d.h. als Einheit des zu messenden auftritt, nimmt nicht as, die kleine Terze, sondern a die grose Terze zu sich. Auch ist ja F moll mit C dur gar nicht verwandt, (hat gar keine Anziehung zu ihm) dagegen F dur gleich die 2te Stelle seiner] Verwandschaft behauptet.


[306]

wird gleichfalls zu demjenigen was unter den Nummern begriffen ist, dankbar hinzugefügt, nur gegen die an Rand geschriebene Behauptung:


Nur der Durton liegt in der Natur

muß ich mich verwahren.

d) Alle Art das Urphänomen [der Klangwelt atomistisch und numerisch darzustellen, ist so vergeblich als in irgend einer anderen Sphäre des vorhandenen. Das Zahlenverhältniß schafft nie. Doch läßt sich nicht läugnen, daß es die Tonwürkungen auf eine sehr innige Weise begleitet, ganz so innig wie die Farbenwürckungen vom Raum nicht können losgerissen werden. Der Grundschematismus davon liegt in der Erscheinung des natürlichen Dreyklanges, wie er in No. ) aufgestellt ist; daselbst folgen,

1234567
C.c.g.c.e.g.boder i
11/21/31/41/51/61/7?

Mit dem Unfaßbareren des Zahlenverhältnisses ein. Vielleicht sind beyde unfaßbar aus demselben höheren Grunde; für die Tonlehre aber entspringt die Unfaßbarkeit nicht aus dem Zahlenverhältnisse, sondern das Zahlverhältniß trifft nur] mit ihr zusammen.


finde ich gleichstimmig mit meiner Überzeugung. Die Zahlen sind wie unsere armen Worte nur Versuche die Erscheinungen zu fassen und auszudrücken, ewig unerreichende Annäherungen. Die Stelle:


Man kann wohl sagen, [daß der Raum für die Farbe und das Auge das sey was die Zahl für den Ton und das Ohr; und dieselbe Unfaßbarkeit des Raumes findet durch das Violette in dem Farbenbilde statt, wie sie durch die Septime] für die Zahl eintritt.


[307]

ist sehr schön; was von Verhältniß des Raumes und der Zahl (des Nebeneinander und Nacheinander) zu Farbe und Ton gesagt wird, finde ich sehr geistreich, so wie das Vergleichen des Violetten mit der Septime.

Über die nicht bezeichneten Stellen äußere Folgendes:

Es freut mich sehr daß Sie diesem schönen Fache soviel Neigung und Sorgfalt zugewendet, und bey originaler Behandlung desselben, auch das Studium der bisherigen Theoristen sich angelegen seyn lassen. Stellen Sie dereinst Ihre Überzeugungen auf, so lassen Sie ja das Geschichtliche einen würdigen Theil Ihres Werckes ausmachen.

In dem Folgenden:


Daß die Molltöne [der menschlichen Natur gemäser seyen, als die Durtöne, ist in einem grosen Sinne wahr; gehört aber nicht unter die Reihe der Phänomene in welcher ich es rubricirt finde. Auch erleidet es merkwürdige pathologische und psychische Modifikationen. Sein Grund ist ein metaphysischer. Nemlich: so wie die Lichtwelt zu dem Sinne des Verstandes, dem Auge, spricht, und ein heiteres Verhältniß nach aussen gründet; so spricht die Tonwelt zu dem Sinne des Gemüthes (um dies düstere Wort zu brauchen) dem Ohre, und zerstört das Verhältniß nach aussen. Das Gemüth wird daher durch die Musik bewegt, wie durch keine andere Kunst, selbst die Poesie nicht ausgenommen. Der Hang des Unendlichen, Fernen, Ungetrennten in uns schwillt kraft ihrer über die Dämme von heute und gestern, erhebt sich zu Höhen und senkt sich in Tiefen, wo er nicht verweilen kann, weil ihm dazu allein Würklichkeit gebende Sinn fehlt. Jeder kann das in sich selbst beobachten; das Horn, ein männlicher Marsch, ein Tanz, [308] lauter Weisen, die in eine helle Gegenwart rufen, regen uns doch nicht zu gegenwärtigem Daseyn an, sondern stimmen zu einer Weite, zu einer inneren Bewegung und Würkung, von der Malerey und Plastik uns ablenken, und uns ruhig auf uns selbst stellen. Hier liegen die Gründe warum diese lezzten Künste das Thier garnicht bewegen, Musik es nach Maasgabe gewaltig ergreift.

Ist daher der menschlichen Natur der Mollton gemäser als der Durton, so will das eigentlich sagen, die Befestigung des Menschen in der Natur fernste, sie in ihren Fugen erschütternde, macht die Wehmuth in uns anklingen, gegen die wir alle zu kämpfen haben, die wir uns, wir mögen es gestehen oder nicht, alle verbergen möchten, und nicht los werden können.

Eben darum aber, weil er das Gemüth am entschiedensten gegen die Natur kehrt, oder aus ihr entwendet, liegt er selbst nicht in der Natur, wenigstens nicht auf eine ursprüngliche Weise. Sein Gefallen ist im Sittlichen zu suchen.

Ich bemerke noch, daß wie ohne Licht und Nichtlicht keine Farbe, so ohne Bewegung und Nichtbewegung kein Ton. Auf welche Weise ich glaube das Urphänomen der Bewegung entdekkt zu haben, schreibe ich wenn Sie diesen Bogen Antheil schenken.

Indem ich nun noch die Bitte zufüge das hier zusammengestellte Niemand mitzutheilen; auch melde daß ich zu bequemerer Berichtigung von Ihrer Seite eine wörtliche Abschrift dieses Briefes bewahre, und mich nun rüste das Schema in allen Theilen auf's genauste durchzugehen, umarme ich Sie vortrefflicher Mann mit unwandelbarer, vollkommner Liebe.

Fft. a. M. 11ten

Ganz der Ihrige

Febr. 1815.

Schlosser.]


[309]

tritt Ihre Individualität liebenswürdig hervor, zugleich aber kommt die Differenz zwischen unsern beyden Denkweisen erst recht zur Sprache.

Meine Überzeugung ist diese: wie der Durton aus der Ausdehnung der Monade entsteht, so übt er eine gleiche Wirkung auf die menschliche Natur, er treibt sie in's Object, zur Thätigkeit, in die Weite, nach der Peripherie. Ebenso verhält es sich mit dem Mollton; da dieser aus der Zusammenziehung der Monade entspringt, so zieht er auch zusammen, concentrirt, treibt in's Subject und weiß dort die letzten Schlupfwinkel aufzufinden, in welchen sich die allerliebste Wehmuth zu verstecken beliebt.

Nach diesem Gegensatz werden kriegerische Märsche, ja alles Auf- und Ausfordernde sich im Durton bilden müssen. Der Mollton hingegen ist nicht allein dem Schmerz oder der Trauer gewidmet, sondern er bewirkt jede Art von Concentration. Die Polonaisen sollen in diesem Tone geschrieben seyn, nicht blos weil diese Tänze ursprünglich nach sarmatischer Art darin verfaßt sind, sondern weil die Gesellschaft die hier das Subject vorstellt, sich concentriren, sich gern in einander verschlingen, bey und durcheinander verweilen soll. Diese Ansicht allein läßt begreifen, wie solche Tänze, wenn sie einmal eingeführt sind, sich bis zu unendlicher Wiederholung einschmeicheln können. Lebhaftere Tänze wechseln sehr klüglich mit major und minor ab. Hier bringt Diastole und Systole[310] im Menschen das angenehme Gefühl des Athemholens hervor, dagegen ich nie was Schrecklicheres gekannt habe als einen kriegerischen Marsch aus dem Mollton. Hier wirken die beyden Pole innerlich gegen einander, und quetschen das Herz anstatt es zu indifferenziren. Das eminenteste Beyspiel giebt uns der Marseiller-Marsch.

Wie Sie Sich nun aber recht zutraulich vorgenommen Ihr Innerstes bey dem gegenwärtigen Anlasse gegen mich aufzuschließen, so konnte es nicht fehlen daß die Differenz zwischen unsern beyden Denkweisen auf das schärfste zur Sprache käme. Es geschieht dieß da Sie das Wort Gemüth ein düsteres Wort nennen, da ich es nur als das heiterste kenne, und es nur auszusprechen brauche, um an alles Frohe und Leuchtende erinnert zu werden. Freylich haben Sie Sich gegen den Schluß Ihres Briefes gleichsam wollüstig in die düstern Regionen des Subjects versenkt, wofür ich Ihnen auch dankbar bin, denn wie wollte ich sonst, auf eine so liebevolle und geistreiche Weise, in die Labyrinthe der Menschennatur zurückgezogen werden.

Und da wir nun einmal immer im Aufklären sind jener Differenzen, die uns nicht entzweyen müssen; so will ich mein allgemeines Glaubensbekenntniß hierher setzen.

a. In der Natur ist alles was im Subject ist.
y. und etwas drüber.
[311] b. Im Subject ist alles was in der Natur ist.
z. und etwas drüber.

b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis in den wir gewiesen sind. Das Wesen, das in höchster Klarheit alle viere zusammenfaßte, haben alle Völker von jeher Gott genannt. Ihre Stellung, mein Freund, gegen die vier Buchstaben scheint mir folgende zu seyn: Sie geben a zu, und hoffen es durch b zu erkennen, Sie läugnen aber das y, indem Sie es durch eine geheime Operation in das z verstecken, wo es sich denn wohl bey einer Untersuchung auch wieder herausfinden läßt. Die Nothwendigkeit der Totalität erkennen wir beyde, aber der Träger dieser Totalität muß uns beyden ganz verschieden vorkommen. Möge diese treue und schnelle Erwiderung Sie zu neuen Mittheilungen veranlassen. Die sämmtliche Physik liegt bey mir tabellarisch vorbereitet, mehr oder minder ausführlich wie jene Blätter die Sie schon in Händen haben. Möge ich vernehmen, daß Sie und die theuren Ihrigen sich recht wohl befinden.

Weimar den 19. Febr. 1815.

Sie sehen, mein theurer Freund! aus dem Datum des Vorstehenden, daß es einige Zeit bey mir liegen geblieben. Folgende Betrachtung die mir nach Abschrift desselben in den Sinn kam hat diesen Aufschub [312] veranlaßt: eigentlich sollte man die Differenzen in welchen man gegen seine Freunde steht, oder in welche man gerathen kann, nicht in die Ferne ausdrucken und schärfen, denn anstatt, daß sich in der Gegenwart manches gar bald ausgleicht, so hat die Abwesenheit den Nachtheil, daß sie das Wohlwollen schwächt und Mißverständnisse vermehrt.

Nunmehr aber will ich diesem Erfahrungssatz einmal entgegen handeln, denn es wäre ja besser, wenn wir bey ungleichbarem Zwiespalt unserer Gesinnungen, lieber auf eine Zeitlang von einander Abschied nähmen und dem guten Genius überließen unsere Wege wieder zu nähern und zur Berührung anzuleiten, als daß wir durch Schweigen und Ausweichen uns stummerweise nach und nach von einander entfernten. Nehmen Sie daher meine Äußerungen freundlich auf, denn ich wünschte, daß wir das große Kunststück, das Schillern und mir gelang, bey völlig auseinanderstrebenden Richtungen ununterbrochen eine gemeinsame Bildung fortzusetzen, auch zusammen bestünden, welches um so verdienstlicher wäre, als Jahre und Überzeugungen noch weiter auseinanderstehen. Möge ich das Beste und Freundlichste von Ihnen vernehmen.

Weimar d. 26. Febr. 1815.

[313]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1815. An Christian Heinrich Schlosser. An Christian Heinrich Schlosser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6D92-6