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An Carl Friedrich Zelter

Zuvörderst also schönsten Dank für die Partitur des wahrhaft enthusiastischen Liedes. Es ist seine guten dreyßig Jahr alt und schreibt sich aus der Zeit her, wo ein reicher jugendlicher Muth sich noch mit dem Universum identificirte, es auszufüllen, ja es in seinen Theilen wieder hervorzubringen glaubte. Jener kühne Drang hat uns denn doch eine reine dauernde Einwirkung auf's Leben nachgelassen; und wie weit wir auch im philosophischen Erkennen, dichterischen Behandeln vorgedrungen seyn mögen, so war es doch in der Zeit von Bedeutung und, wie ich tagtäglich sehen kann, anregend und anleitend für manchen.

Mein Hauskreuz wogt noch immer hin und her; man müßte nichts von der Welt wissen, wenn dergleichen Epochen uns unerhört scheinen sollten: wir müssen das Rad dahinrollen lassen und abwarten, wie [36] es uns streift und quetscht, wenn es uns nur nicht gar zerdrückt.

Matthisson ist auch bey uns durchgegangen; unsere Musenjünger haben ihn freundlich gefeyert, seine Gedichte gesungen, Lorbeerkränze gereicht, und das bey einem muntern Gastmahl, welches alles ganz billig und schicklich abgelaufen ist.

Ergreife die Gelegenheit Herrn Minister v. Schuckmann zu äußern, wie seine Rückantwort mir höchst erfreulich gewesen. Es ist so schön sich aus früherer Zeit erinnern zu dürfen, daß man das Wohlwollen solcher Männer genossen, die sich in der Folge des Lebens als die thätigsten und tüchtigsten erwiesen. Was der werthe Staatsmann für mich noch thun will, ist freylich der abschließende Sicherungsact einer so mannichfaltig complicirten wunderlichen Angelegenheit.

Schreibe mir manchmal, wie dir's durch den Sinn geht und was dir vor die Augen kömmt, ich erwidere dagegen auch wohl etwas Erfreuliches.

Die Graf Ingenheim-Hirtische Vase ist ein schönes Geschenk; doch ist es schwer über solche subalterne und abgeleitete Kunstwerke für sich selbst, geschweige denn für andere zu einer Überzeugung zu gelangen. Bey solcher Fabrikware, auch bey der besten, ging es niemals zum strengsten her. Wenn auch eine Hauptgruppe congruirt, wie hier die drey mittlern Figuren, so muß man es mit dem Übrigen nicht so genau nehmen. Der Geschmack, der etwas Fremdartiges, [37] Drittes, Einzelnes zu seinen Bedürfnissen heranruft, besitzt ja auch eine secundäre Erfindungsgabe, der man zuletzt so wenig als der primären beykommen kann, man stelle sich wie man wolle. Alles Kunstwerk steht zum Genuß da, und wenn es dem reinen ästhetischen Sinn genügt, so werden Vernunft und Verstand freylich nicht an ihrer Seite widersprechen können.

Wenn man bedenkt, daß so viel wichtige Menschen doch am Ende wie Öltropfen auf Wasser hinschwimmen und sich höchstens nur an Einem Puncte berühren, so begreift man, wie man so oft im Leben in die Einsamkeit zurückgewiesen ward. Indessen mag denn doch ein so langes Nebeneinanderleben, wie uns mit Wolf geworden, mehr als wir gewahr werden und wissen, gewirkt und gefördert haben.

Du gedenkst meines Phaethons, dessen ich mich noch immer freue, obgleich betrübe, daß ich nicht die zwey Hauptscenen damals niederschrieb. Wäre es auch nicht zulänglich gewesen, so war es doch immer etwas, wovon sich jetzt niemand einen Begriff machen kann.

In jene Regionen werde ich abermals verlockt durch ein Programm von Hermann, der uns auf drey antike Philoktete aufmerksam macht: der erste von Äschylus, dem ältesten; der zweyte von Euripides, dem jüngsten; der dritte von Sophokles, dem mittlern. Ich mußte mich bald losmachen von diesen Betrachtungen; sie hätten mich ein Vierteljahr gekostet, das[38] ich nicht mehr nebenher auszugeben habe. Von den beiden ersten Stücken finden sich nur Fragmente und Andeutungen; das letzte haben wir noch ganz. Auch hier darf ich nicht weiter gehen, weil ich gleich verführt werde; denn ich konnte mich doch nicht enthalten diese für mich so wichtige Angelegenheit vor allen Dingen durch und durch zu denken; denn hier kommen die wunderlichsten Dinge vor. Sogar hat ein uralter Lateiner einen Philoktet geschrieben und zwar nach dem Äschylus, wovon denn auch noch Fragmente übrig sind und woraus sich der alte Grieche begreifbar einigermaßen restauriren ließe. Du siehst aber, daß das ein Meer auszutrinken sey, für unsre alte Kehle nicht wohl hinabzuschlucken.

Aus allem diesen erhellt, daß ich deine ältern Briefe wieder vorgenommen habe, und will nun sehen, daß ich dir sonst manches zurechtlege. Meine nächste Absicht ist, dir einen ausschattirten Charon zu übersenden, da es mit dem Lithographiren dieses Blattes noch in weitem Felde steht; ich wünsche, daß du es stets vor Augen habest, um stets erinnert zu werden, daß der größte, furchtbarste, unerträglichste Gedanke, durch eine tüchtige Kunst, die sich über ihn erhebt, uns faßlich, sogar anmuthig vorgebildet werden könne. Bey näherer Betrachtung wirst du bekennen, daß alles, was die Weimarischen Kunstfreunde an dem Blatte gesehen haben, Zug vor Zug daran befindlich sey.

[39] Magst du mir über Hummels Exhibitionen etwas nach deiner Art vortragen, so machst du mir in mei nem jetzigen

(die Fortsetzung folgt nächstens.)

Weimar den 20. May 1826.
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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1826. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-707D-E