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An Sulpiz Boisserée

Dem Großvater verzeihen Sie vielleicht daß der Freund so lange nicht geschrieben. Der Drang des [157] Lebens wird immer wunderlicher, man verbraucht seine Kräfte in der Nähe und es bleibt endlich zur Wirkung in die Ferne nichts mehr übrig. Möge in beyliegendem Heft einiges enthalten seyn das Ihnen Freude macht und zum Weiter-Denken Anlaß giebt. Das vierte ist auch schon angefangen, wobey die ersten Bogen eine Weile als Verzahnung stehn zum künftigen Fortbauen.

Die Ärzte wollen mich nach Carlsbad, ich gehe ungern hin, weil ich den Glauben daran verloren habe; ferner wird man gewohnt mancherley zu leiden und ist nicht so ungeduldig wie in der Jugend, wo man sich eingebildet eine unbeschränkte und unbedingte Existenz erreichen zu können.

Übrigens war ich auf vielfache Weise thätig, wovon manches gelegentlich zu Ihnen gelangen soll. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich ein heiteres Quartier auf dem rechten Saalufer unmittelbar an der Brücke bezogen habe? Einen Erker von wo man Fluß, Land und Stadt zum schönsten besieht. Eben ist jetzt die herrliche Blüthenzeit; wie mag das erst bey Ihnen aussehen, oder vielmehr ausgesehen haben.

Diese Tage hatte ich ein besonderes Vergnügen das ich wohl mit Ihnen theilen möchte: mir ward ein Brief anvertraut den Meyer über Ihre Sammlung geschrieben hatte. Es ist höchst erquicklich anzusehen wenn ein so alter Goldschmid und Juwelenhändler ächte Waare gewissenhaft und freudig taxirt. [158] Es wollte sich nicht ziemen eine Abschrift zu erbitten, vielleicht giebt es Gelegenheit.

Hat sich in dem Hauptpunkte noch nichts entschieden? von Berlin höre nichts als den alten Rundgesang.

Das Schicksal indem es mir die Anordnung der akademischen Bibliothek überwies scheint sich wegen des Faustischen Monologs und jener frevelhaften Geringschätzung alles Wissens rächen zu wollen. Wir müssen suchen auch hier durchzukommen.

Bey Gelegenheit von Faust fällt mir ein zu fragen: ist Ihnen denn wohl das Trauerspiel Manfred von Lord Byron in die Hände gerathen? für mich war es höchst merkwürdig zu sehen wie er meinen Faust kennt und nach seiner eigenen Weise hypochondrisch misanthropisch umarbeitet. Wenn ich zugleich versichere daß ein außerordentlicher Geist, großes Talent, Durchdringen der Welt und Selbstbewußtseyn darin waltet, so wird man, wollte man mir auch gerade zu nicht glauben, doch auf dieses Produkt aufmerksam werden.

Ihren dem Musikus Klein mitgegebenen Brief erhalte ich erst diese Tage von Berlin, der Mann ging mit Gesellschaft durch Weimar und konnte sich nicht aufhalten, leider also daß mein guter Wille Ihre Empfehlung zu honoriren getäuscht worden. Zelter scheint sehr wohl mit ihm zufrieden zu seyn. Geheime RathWillemer schrieb mir vor einiger Zeit [159] daß ein Musikus bey ihm auf der Mühle gewesen, von dem er das Beste prädizirt; ist es etwa eben derselbige? denn er hat mir ihn nicht genannt.

Ich höre daß Freund Thibaut fleißig Singakademien hält, sagen Sie mir doch auch gelegentlich ein Wort darüber.

Hegel, vernehme ich, geht nach Berlin, auch Seebeck soll dahin versetzt werden. Minister Altenstein scheint sich eine wissenschaftliche Leibgarde anschaffen zu wollen. Wir müssen sehen was er gegen die bepfründete, starre Akademie ausrichten kann, das unbesoldete, bewegliche Publikum nimmt gewiß auch daran nur tagtäglichen Antheil. Sind die Händel über die Hierodulen auch zu Ihnen gelangt? Böttcher (wahrscheinlich der Widersacher) hat in ein heftiges Wespennest gestochen. So lange er tückisch handelte ging ihm alles hin. Wer offen befehden will muß nicht so viele schlechte verwundbare Seiten blos geben. Von unsern innern Händeln sage ich nichts, ich ignorire sie sogar an Ort und Stelle und kenne nichts tagverderblicheres als dergleichen Partheiklatsch.

Hundert und aber hundert Gedanken und Ansichten möchte ich mit Ihnen mündlich theilen und austauschen, lassen Sie mich daher noch einiges vorübergehend erwähnen.

Die famose Bildergallerie der Philostrate beschäftigt mich schon seit vielen Jahren, wobey Meyer redlich mitwirkte, ich habe die alten Vorarbeiten jetzt[160] wieder aufgenommen, sie sollen im vierten Stück redigirt erscheinen. Diese, zwar gleichfalls ernste, aber doch heiter behandelte Gegenstände contrastiren wunderbar mit dem bedenklichen Bilde des Leonards da Vinci zu Mailand.

Die Engländer haben Facsimiles von Handzeichnungen aus der königlichen Sammlung herausgegeben. Daß man durchgängig die wundervollsten Dinge gewählt habe sich denken.

Daniel, der die großen indischen Prospecte vor Jahren herausgab, hat eine niedlich kleine mahlerische Reise von Gravesand nach China gleichfalls bunt gedruckt herausgegeben. Es ist ein sehr verkäufliches Büchlein, zugleich auch voller Geist und Geschmack. Wahrscheinlich haben Sie es auf der akademischen Bibliothek.

Artaria war bey uns mit allerley alterthümlicher Trödelwaare, vor der unsere Fürsten sich hüteten. Seine Gemälde gaben meist die Apprehension neuere Hände möchten daran das Beste und Schlimmste gethan haben.

Sein Bruder Dominikus sendete mir ein Portefeuille alter italiänischer Kupfer, höchst löblich, treffliche Abdrücke, aber auch die Preise darnach. Nur mit Carolinen steigen sie. Ich habe etwan ein halb Dutzend behalten, unschätzbar wegen Gedanken und Ausführung. Fast hätte ich mich verleiten lassen mehrere zu wählen, der Cammer-Präsident aber widersetzte sich dem Gallerie-Inspector.

[161] Aus einer Leipziger Auction dagegen habe ich eine Unzahl guter Blätter erhalten, höchst schätzbar zur Complettirung meines historischen Sammelns. Die Franzosen gelten jetzt gar nichts und so erhielt ich Sebastian Bourdon, Le Sueur, Glauber nach Poussin und zuletzt Watteau und Boucher fast umsonst, selbst Primaticcio galt nichts, weil er in Frankreich gemahlt hat.

Ebenso geht es mit gewissen Niederländern, besonders die zu Ende des 17. Jahrhunderts Zeitereignisse, Schlachten, Brand und Massacre mit Geist und Geschick eigenhändig radirten. Als Romega de Hooghe, Lytkens und andere. Callot und Stella werden nicht viel besser bezahlt. Ich mache eine Sammlung von dergleichen Dingen bis herauf in's 18. Jahrhundert. Sie geben, verbunden mit den fatyrischen Bildern, den lebhaftesten Begriff damaliger Zustände; auch Hof-und Theaterfeste haben ihren eigenen Charakter, von den letztern besitze ich schöne Blätter, gezeichnet und gestochen von Augustin Carrache. Die meisten sind groß Folioblätter, worauf ein ungeheueres Gewühl dargestellt ist. Unsere Kupferstecherey hat dagegen ihre Systole in den Almanachen und die Politik diastolisirt in Tages- und Monatsblättern.

Und nun lassen Sie mich wie sonst mit einem Verslein schließen.


[162] »Warum ist Wahrheit fern und weit?
Birgt sich hinab in tiefste Gründe?«
Niemand versteht zur rechter Zeit! –
Wenn man zu rechter Zeit verstünde:
So wäre Wahrheit nah und breit,
Und wäre lieblich und gelinde.

Und so, mit den freundlichsten Segnungen

verbunden

Jena den 1. May 1818.

Goethe. [163]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1818. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7583-9