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An Thomas Carlyle

Wenn Beykommendes, schon vor acht Wochen Gewünschtes noch zu rechter Zeit ankommt, so soll es mich freuen. Das lange Außenbleiben zu entschuldigen, müßt ich viel von verketteten Arbeiten und Aufforderungen berichten und beschreiben und könnte Ihnen doch keinen Begriff von allen denen Obliegenheiten geben, die sich durch so lange Jahre an mir herangehäust und sich noch täglich eher vermehren als vermindern.

Ein Kästchen mannichfaltigen Inhalts, abgegangen von hier den 20. Januar d. J., von Hamburg durch Vermittlung der Herren Parish den 1. Februar, wird längst in Ihren Händen und ich hoffe gut aufgenommen seyn.

Geben Sie mir einige Nachricht deshalb, wie auch, ob Gegenwärtiges einigermaßen gefruchtet.

Grüßen Sie mir Ihre liebe Gattin von mir und den Meinigen und erhalten mit Ihre treuen Gesinnungen, wie ich sie auch lebenslänglich zu hegen gewiß nicht unterlasse.

theilnehmend und mitwirckend

Weimar den 14. März 1828.

J. W. v. Goethe.


[26] [Beilage.]

Wahre Überzeugung geht vom Herzen aus, das Gemüth, der eigentliche Sitz des Gewissens, richtet über das Zulässige und Unzulässige weit sicherer als der Verstand, der gar manches einsehen und bestimmen wird ohne den rechten Punct zu treffen.

Ein wohlwollender, auf sich selbst merkender Charakter, der sich selbst zu ehren, mit sich selbst in Frieden zu leben wünschte und doch so manche Unvollkommenheit die sein Inneres verwirrt empfinden muß, manchen Fehler zu bedauern hat der die Person nach außen compromittirt, wodurch er sich denn nach beiden Seiten hin beunruhigt und bestritten findet, wird sich von diesen Beschwernissen auf alle Weise zu befreyen suchen.

Sind nun aber diese Mißhelligkeiten in treuer Beharrlichkeit durchgestochen, hat der Mensch erkannt, daß man sich von Leiden und Dulden nur durch ein Streben und Thun zu erholen vermag, daß für den Mangel ein Verdienst, für den Fehler ein Ersatz zu suchen und zu finden sey, so fühlt er sich behaglich als einen neuen Menschen.

Dann aber drängt ihn sogleich eine angeborene Güte, auch anderen gleiche Mühe, gleiche Beschwerden zu erleichtern, zu ersparen, seine Mitlebenden über die innere Natur, über die äußere Welt aufzuklären, zu zeigen woher die Widersprüche kommen, wie sie zu [27] vermeiden und auszugleichen sind. Dabey aber gesteht er, daß dem allen ungeachtet im Laufe des Lebens sowohl Äußeres als Inneres unablässig im Conflict befangen bleibe und wie man sich deshalb rüsten müsse, täglich solchen Kampf wiederholt zu bestehen.

Wie sich nun ohne Anmaßung behaupten läßt, daß die deutsche Literatur in diesem humanen Bezug viel geleistet hat, daß durch sie eine sittlich-psychologische Richtung durchgeht, nicht in asketischer Ängstlichkeit, sondern eine freye naturgemäße Bildung und heitere Gesetzlichkeit einleitend, so habe ich Herrn Carlyle's bewundernswürdig tiefes Studium der deutschen Literatur mit Vergnügen zu beobachten gehabt und mit Antheil bemerkt, wie er nicht allein das Schöne und Menschliche, Gute und Große bey uns zu finden gewußt, sondern auch von dem Seinigen reichlich herübergetragen und uns mit den Schätzen seines Gemüthes begabt hat. Man muß ihm ein klares Urtheil über unsere ästhetisch-sittlichen Schriftsteller zugestehen und zugleich eigene Ansichten, wodurch er an den Tag gibt daß er auf einem originalen Grund beruhe und aus sich selbst die Erfordernisse des Guten und Schönen zu entwickeln das Vermögen habe.

In diesem Sinne darf ich ihn wohl für einen Mann halten, der eine Lehrstelle der Moral mit Einfalt und Reinheit, mit Wirkung und Einfluß bekleiden werde, indem er nach eigen gebildeter Denkweise, nach angebornen Fähigkeiten und erworbenen Kenntnissen [28] die ihm anvertraute Jugend über ihre wahrhaften Pflichten aufklären, Einleitung und Antrieb der Gemüther zu sittlicher Thätigkeit sich zum Augenmerk nehmen und sie dadurch einer religiosen Vollendung unablässig zuführen werde.

Dem Vorstehenden darf man wohl nunmehr einige Erfahrungsbetrachtungen hinzufügen.

Über das Princip, woraus die Sittlichkeit abzuleiten sey, hat man sich nie vollkommen vereinigen können. Einige haben den Eigennutz als Triebfeder aller sittlichen Handlungen angenommen; andere wollten den Trieb nach Wohlbehagen, nach Glückseligkeit als einzig wirksam finden; wieder andere setzten das apodiktische Pflichtgebot oben an, und keine dieser Voraussetzungen konnte allgemein anerkannt werden, man mußte es zuletzt am gerathensten finden, aus dem ganzen Complex der gesunden menschlichen Natur das Sittliche so wie das Schöne zu entwickeln.

In Deutschland hatten wir schon vor sechzig Jahren das Beyspiel eines glücklichen Gelingens der art. Unser Gellert, welcher keine Ansprüche machte ein Philosoph vom Fach zu seyn, aber als ein grundguter, sittlicher und verständiger Mann durchaus anerkannt werden mußte, las in Leipzig unter dem größten Zulauf eine höchst reine, ruhige, verständige und verständliche Sittenlehre mit großem Beyfall und mit dem besten [29] Erfolg; sie war den Bedürfnissen seiner Zeit gemäß und wurde erst spät durch den Druck bekannt.

Die Meynungen eines Philosophen greifen sehr oft nicht in die Zeit ein, aber ein verständiger wohlwollender Mann, frey von vorgefaßten Begriffen, umsichtig auf das was eben seiner Zeit Noth thut, wird von seinen Gefühlen, Erfahrungen und Kenntnissen gerade dasjenige mittheilen, was in der Epoche wo er auftritt die Jugend sicher und folgerecht in das geschäftige und thatfordernde Leben hineinführt.

Weimar den 14. März 1828.

J. W. v. Goethe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Thomas Carlyle. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-76C5-D