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An Friedrich Schiller

[Concept.]

[vor dem 19. October 1794.]

Ihr Brief hat mich noch mehr in der Überzeugung bestärkt, die mir unsre Unterredung hinterlassen hatte, daß wie nämlich an wichtigen Gegenständen ein gleiches Interesse haben und daß wir, indem wir von ganz verschiedenen Seiten auf dieselben losgehen, doch bey denselben in gerader Richtung zusammentreffen,[64] und uns darüber zu unsrer wechselseitigen Zufriedenheit unterhalten können.

Der größte Theil Ihres Briefes enthält nicht allein meine Gedanken und Gesinnungen, sondern er entwickelt sie auch auf eine Weise, wie ich es selbst kaum gethan hätte. Die Bezeichnung der beyden Wege, die unsre Untersuchung genommen, die Warnung vor der doppelten Gefahr, das von einem Portrait genommene Beyspiel, und was zunächst darauf folgt, ist von der Art, daß ich auch selbst Wort und Ausdruck unterschreiben könnte; der Gedanke, daß eine idealische Gestalt an nichts erinnern müsse, scheint mir sehr fruchtbar, und der Versuch, aufzufinden, was sowohl am Gegenstand die Schönheit mindern oder aufheben, als was den Beobachter hindern könne, scheint mir sehr weislich angestellt. Wenn Sie nun aber die anscheinende Ketzereyen vorlegen, daß Bestimmtheit sich nicht mit der Schönheit vertrage, ferner daß Freyheit und Bestimmtheit nicht nothwendige Bedingungen unsres Wohlgefallens an der Schönheit seyen, so muß ich erst abwarten, bis Sie mir diese Räthsel auflösen, ob ich gleich aus dem was zwischen beyden Sätzen inne steht, ohngefähr den Weg errathen kann, den Sie nehmen möchten.

Lassen Sie mich dagegen auf meiner Seite in der Region bleiben, die ich durchsuche und durchforsche, lassen Sie mich, wie ich immer gethan, von Sculptur[65] und Mahlerey besonders ausgehen, um zu fragen, was denn der Künstler zu thun habe, damit, nach seinen vielfältigen einzelnen Bemühungen, der Zuschauer endlich doch das Ganze sehe, und ausrufe: es ist schön!

Da wir beyde bekennen, daß wir dasjenige noch nicht wissen, wenigstens noch nicht deutlich und bestimmt wissen, wovon wir uns so eben unterhalten, sondern vielmehr suchen; da wir einer dem andern nachzuhelfen, und ihn zu warnen denkt, wenn er, wie es nur leider gewöhnlich geschieht, zu einseitig werden sollte, so lassen Sie mich vollkommene Kunstwerke gänzlich aus den Augen setzen, lassen Sie uns erst versuchen, wie wir gute Künstler bilden, erwarten, daß sich unter diesen ein Genie finde, das sich selbst unbewußt dabey zu Werke gehe und wie das schönste Kunstproduct, eben wie ein schönes Naturproduct, zuletzt nur gleichsam durch ein unaussprechliches Wunder zu entstehen scheine.

Lassen Sie mich, bey meinen Erklärungen, das Wort Kunst brauchen, wenn ich immer gleich nur bildende Kunst, besonders Sculptur und Mahlerey hierunter verstehe; daß manches auf andere Künste passe, daß manches gemein seyn werde, versteht sich von selbst. Noch eins lassen Sie mich erinnern, was sich gewissermaßen von selbst verstehet: daß hier nicht[66] die Rede sey neue und unbekannte oder unerhörte Dinge zu sagen, sondern das Bekannte, das längst Ausgeübte so darzustellen, wie es sich in unsrer Gemüthsart sammle.

Indem wir nur vorerst gute Künstler bilden wollen, setzen wir in unsern Schülern ein mäßiges Naturell voraus, ein Auge, das die Gegenstände rein sieht, ein Gemüth, das geneigt sey sie zu lieben, einen mechanischen Trieb der Hand, dasjenige, das das Auge empfängt, gleichsam unmittelbar in irgend einer Materie wieder hinzugeben, und so fragen wir denn: wie wir diese bilden wollen, damit sie im Stand gesetzt würden sich über unsre Erwartung in der Folge selbst auszubilden.

Leonardo da Vinci fängt seine Schrift über die bildende Kunst mit denen sonderbaren Worten an: wenn ein Schüler in der Perspektiv und Anatomie sich perfectionirt hat, so mag er einen Meister aufsuchen.

Lassen Sie mich auf gleiche Weise annehmen, daß unsre Schüler, was sie sehen, schon das auf eine leidliche Weise nachzubilden wissen; lassen Sie uns sodann unsre Schüler in verschiedene Klassen eintheilen, und sehen, was wir sie darinnen zu lehren haben; lassen Sie uns streng verfahren, und keinen eine Stufe weiter rücken, bis er es verdient und sich diese Stufe selbst erobert hat. Künstler, die zu schnell und ohne Vorbereitung in das Höhere der Kunst gerückt werden, [67] gleichen den Menschen, die vom Glücke zu schnell erhaben werden: sie wissen sich in ihren Zustand nicht zu finden, können von dem was ihnen zugeeignet wird, selten mehr als einen oberflächlichen Gebrauch machen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1794. An Friedrich Schiller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7B92-6