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An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Die Freude, welche mir Ihr letzter Brief gebracht, verehrter geliebter Freund, möcht ich gern so frisch als möglich wieder zu Ihnen hinüberklingen lassen; darum Folgendes eilig ohne Vorbereitung, wie es mir in den Sinn kommt.

Ich habe Sie nie aus den Gedanken, wenn auch schon einige Zeit aus den Augen verloren, war aber immer dabey überzeugt, daß Sie sich derweilen sowohl selbst als auch zugleich andern manches zu Liebe thun würden. Sie setzen mich nunmehr von Ihrer Thätigkeit in Kenntniß; nehmen Sie dafür meinen besten Dank. Die kritische Zwietracht, die Sie erregen werden, muß uns allen willkommen seyn. Ich ehre und liebe das Positive und ruhe selbst darauf, insofern es nämlich von Uralters her sich immer mehr bethätigt [114] und uns zum wahrhaften Grunde des Lebens und Wirkens dienen mag. Dagegen freut mich nicht etwa die Zweifelsucht, sondern ein directer Angriff auf eine usurpirte Autorität. Diese mag Jahrhunderte gelten, denn sie schadet einem düstern dummen Volk nicht, das ohne sie noch übler wäre dran gewesen; aber zuletzt, wenn das Wahre nothwendig wird, um uns das entschieden Nutzende zu verleihen, da mag rechts und links fallen, was da will, ich werde mich darüber nicht entsetzen, sondern nur auf's genauste aufmerken, welche Aussicht ich gewinne, wenn das alte Gehege zusammenstürzt. Manches der Art ist mir in meinem langen Leben schon geworden.

Glück und Heil also zu Ihrem Unternehmen!

Den Pomponius Mela muß ich Ihnen ganz überlassen; ich habe ihn auf meinem Lebenswege niemals berührt. Vom Vitruv kann ich sagen und habe es immer gesagt: daß mir öftere Versuche, durch ihn mich der ältern Architektur zu nähern, jedesmal mißlungen sind. Ich konnte nie in das Buch hineinkommen, noch mir daraus etwas zueignen; davon gab ich mir die Schuld. Und, genau besehen, führte mich mein Weg eigentlich an der römischen Architektur nur vorbey gegen die griechische, die ich denn freylich in einem ganz andern Sinne zu besuchen und zuletzt immer wie eine fremde erhabene Feenwelt zu betrachten hatte.

Das von Ihren Untersuchungen zu Erwartende ist positiv, worauf Sie Ihre Gerechtsame, das bisher [115] Geglaubte, Gewähnte zu bestreiten, kühnlich in den Grund legen; erklären Sie nur den Krieg je eher je lieber, damit ich, für mein übriges Leben höchst Friedliebender, doch auch noch einigen Erfolg des Streitens und des Gelingens zu genießen habe.

Ich selbst werde noch einige Zeit in der Mühsamkeit gehalten, die eine Redaction jeder Art, wenn man abschließen soll, mit sich führt; mögen die Wanderjahre, in der neuen Form, wie sie Ostern erscheinen werden, auch Ihnen irgend eine gute Stunde bereiten. Zu diesem Unternehmen aus innerer Nothwendigkeit, aus äußerer Veranlassung, aus Überzeugung und Grille getrieben, mußte mein Bestes thun, was ich vielleicht besser hätte anwenden können.

Indeß gereicht es mir zur angenehmsten Empfindung, daß die Novelle freundlich aufgenommen wird; man fühlt es ihr an, daß sie sich vom tiefsten Grunde meines Wesens losgelöst hat. Die Conception ist über dreyßig Jahre alt; es müssen sich Spuren davon in der Correspondenz finden.

Und eben diese Correspondenz würdigen Sie vollkommen richtig; man könnte sagen, ich sey sehr naiv dergleichen drucken zu lassen; aber ich hielt gerade den jetzigen Zeitpunct für den eigentlichen, jene Epoche wieder vorzuführen, da, wo Sie, mein verehrter Freund, und so manche andere treffliche Menschen jung waren und strebten und sich zu bilden suchten, da wo wir Älteren aufstrebten, uns auch zu bilden[116] suchten und uns mitunter ungeschickt genug benahmen; solchen damals Gleichzeitigen kommt es eigentlich zu Gute, d.h. zu Heiterkeit und Behagen. Denn was kann heiterer seyn, daß es beynahe komisch wird, die Briefe mit der pomposen Ankündigung der Horen anfangen zu sehen und gleich darauf Redaction und Theilnehmer ängstlich um Manuscript verlegen.

Das ist wirklich lustig anzuschauen, und doch, wäre damals der Trieb und Drang nicht gewesen, den Augenblick auf's Papier zu bringen, so sähe in der deutschen Literatur alles anders aus. Schillers Geist mußte sich manifestiren; ich endigte eben die Lehrjahre, und mein ganzer Sinn ging wieder nach Italien zurück. Behüte Gott! daß jemand sich den Zustand der damaligen deutschen Literatur, deren Verdienste ich nicht verkennen will, sich wieder vergegenwärtige; thut es aber ein gewandter Geist, so wird er mir nicht verdenken, daß ich hier kein Heil suchte; ich hatte in meinen letzten Bänden bey Göschen das Möglichste gethan, z.B. in meinen Tasso des Herzensblutes vielleicht mehr, als billig ist, transfundirt, und doch meldete mir dieser wackere Verleger, dessen Wort ich in Ehren halten muß: daß diese Ausgabe keinen sonderlichen Abgang habe.

Mit Wilhelm Meister ging es mir noch schlimmer. Die Puppen waren den Gebildeten zu gering, die Comödianten den Gentleman zu schlechte Gesellschaft, die Mädchen zu lose; hauptsächlich aber [117] hieß es, essey kein Werther. Und ich weiß wirklich nicht, was ohne die Schillersche Anregung aus mir geworden wäre. Der Briefwechsel gibt davon merkwürdiges Zeugniß. Meyer war schon wieder nach Italien gegangen, und meine Absicht war, ihm 1797 zu folgen. Aber die Freundschaft zu Schillern, die Theilnahme an seinem Dichten, Trachten und Unternehmen hielt mich, oder ließ mich vielmehr freudiger zurückkehren, als ich, bis in die Schweiz gelangt, das Kriegsgetümmel über den Alpen näher gewahr wurde. Hätt es ihm nicht an Manuscript zu den Horen und Musenalmanachen gefehlt, ich hätte die Unterhaltungen der Ausgewanderten nicht geschrieben, den Cellini nicht übersetzt, ich hätte die sämmtlichen Balladen und Lieder, wie sie die Musenalmanache geben, nicht verfaßt, die Elegien wären, wenigstens damals, nicht gedruckt worden, die Xenien hätten nicht gesummt, und im Allgemeinen wie im Besondern wäre gar manches anders geblieben. Die sechs Bändchen Briefe lassen hievon gar vieles durchblicken.

Indem Sie diesen Brief erhalten und lesen, so denken Sie sich, daß Ihr liebes Blatt auf einmal mir das Bedürfniß erregte, mich wieder mit Ihnen zu unterhalten. Ein stiller Abend gab die Gelegenheit, und so nehmen Sie freundlich, was ich eilig gebe. Gedenken Sie mein zu jeder guten Stunde, und lassen mich wo möglich von Ihren Hauptargumenten [118] in dem wichtigen, so weit schon vorbereiteten Streite das Nöthigste wissen.

Hier aber will ich schließen, damit die nächste Post meinen Dank für Ihr liebwerthes Schreiben überbringe und den Wunsch künftig kürzerer Pausen andringlich ausspreche.

unwandelbar

Weimar den 10. Januar 1829.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7D49-7