43/191.

An Carl Friedrich von Reinhard

Vor allen Dingen, verehrter Freund, lassen Sie mich die Freude treulich aussprechen, die ich bey'm Erblicken Ihres erwünschten Schreibens gefühlt, indem ich daran erkannte, daß Ihnen der Gebrauch Ihrer theuren Hand wieder gegönnt ist, welche als Vertraute Ihrer Geschäfte, Gedanken und Empfindungen Ihnen so nöthig als uns werth und wichtig seyn muß.

Sodann füge unmittelbar hinzu, daß jenes an [265] den unglücklichen König erinnernde Blättchen meiner Sammlung zur besten Vorbedeutung geworden; denn kaum hatte ich solches erhalten, so kam aus Ostpreußen ein ganzes Paquet, bezüglich auf die Zeiten Friedrichs des Großen. Nun bringt mir Frau Generalin Rapp von Paris den deutlich und klar unterschriebenen Namen Napoleons so wie die Handschriften seiner Marschälle, und ich sehe mich dadurch auf einmal in alte und neue hochbedeutende Zeiten versetzt. Einen solchen Segen hat zur Folge das Andenken eines Freundes, deshalb ich denn auch alle diese Blätter zu einem erfreulichen Zeugniß dieser Epoche meiner Sammlung ungetrennt verwahre, das Blatt an der Spitze, das ich Ihrer Geneigtheit verdanke.

Das vorige Jahr hob ich meist in unverrückter Thätigkeit geschlossen und bin, ich dürfte fast sagen, zufälligerweise in eine Jugendepoche zurückgekehrt, von welcher unser Canzler schon, wie ich sehe, gemeldet hat. Ich mag mich gern wieder der alten leichten losen Sylbenmaaße bedienen, an denen der heitere Reim gefällig widerklingt, und unter solcher Form, in solchem Klang nach echter Poetenart dasjenige heiter vor den Geist zurückführen, was uns im Leben erfreuen und betrüben, verdrießen und aufmuntern konnte. Wunderbarerweise fügt sich's auch, daß die Außenwelt sich in gleichen Bewegungen hervorthut,


Daß hinten weit in her Türkey
Die Völker auf einander schlagen,

[266]

die Siege von Lepanto, Tschesme u.s.w. sich erneuern und wir uns also mit der Weltgeschichte wie mit dem Erdball auf unserer eignen Achse herumzudrehen scheinen. Eben so erneuert sich in England und Frankreich die alte Verlegenheit, daß schon wieder niemand regieren kann oder mag, da sich denn ein Mal über's andere für einen Usurpator gar vortheilhafter Raum fände.

Zu diesen mir sonst nicht gewöhnlichen Betrachtungen werde ich geführt durch mein letztes sorgfältiges Lesen des Walter Scott'schen Napoleons. Alle neun Theile habe ich in den letzten Wochen des Decembers mit aufmerksamem Wohlwollen durchgelesen und zwar in englischer Sprache, welches nothwendig ist, weil es doch eigentlich immer ein Engländer ist der spricht, auf dessen einseitigen Vortrag man gefaßt seyn muß. Denn daß er die große Symphonie des wundersamsten aller Heldenleben durchaus mit Sordinen abspielt, thut nicht wohl, wenn man nicht belehrt seyn will, wie diese großen Angelegenheiten über den Canal herüber angeschaut worden oder wie man dort will daß sie angeschaut werden sollen. Ich habe das Werk als ein wohlgestricktes Netz betrachtet, womit ich die Schattenfische meiner eignen Lebenstage aus den anspülenden Wellen des letheischen Sees wieder herauszufischen in den Stand gesetzt ward, und wirklich dadurch mehr Interesse an denen sich anschließenden und entwickelnden Weltbegebenheiten gewann.

[267] Auch Ihrer, mein Theuerster, mußt ich dabey gedenken, denn Sie waren gegenwärtig und theilnehmend und sind es noch; deshalb denn freylich sich das alles für Sie ganz anders und bedeutender gestalten mag als mir, der ich, in meinen Klostergarten schauend, jene wichtigsten Ereignisse nur als phantasmagorische Wolken über mir vorbeyziehen sehe. Wozu ich aber Glück wünsche ist, daß die neuen Veränderungen in Paris Ihren Lebens- und Geschäftsgang, wie Sie mir andeuten, nicht stören werden.

Überdem ist dieser Winter auch für mich nicht ungesegnet: wenige Freunde wechseln ab, meine Mittage belebt und die Abende belehrend zu machen. Kunsterzeugnisse drängen sich häufig herbey, unter welchen die Jügelischen Frankfurter Prospecte so lobenswürdig als angenehm erschienen. Bezeichnen Sie mir doch gefällig auf der dritten Platte das Haus näher das Sie bewohnen, damit ich genau wisse, zu welchen Fenstern ich heraussehen möchte, um mit Ihnen der unvergleichlich heitern und lebendigen Aussicht zu genießen und mir die Augen wie die Einbildungskraft wieder einmal auszuwischen und anzufrischen.

Indessen nöthigt mich meine örtliche Umgebung, welche weder ästhetisch noch romantisch genannt werden kann, hereinwärts zu sehen, in's Innere der Wohnung und des Geistes, da ich denn zu vermelden habe, daß Ottilie ein zierliches Mädchen mit Sorgfalt heranfüttert [268] und alles Übrige gut und glücklich, jedoch nach irdischer Weise nicht ohne irgend einen Mißklang ruhig dahin gleitet.

Den 30. Januar haben unsre Fürstlichkeiten in gutem Befinden herangelebt; die Niederkunft der Prinzeß Marie steht bevor; die Frau Erbgroßherzogin wird diese Epoche wohl in Berlin feyern.

Von durcheilenden Fremden hätte manches zu er zählen. Herr v. Nagler, dem ich mich bestens zu empfehlen bitte, hat mich durch feine Gegenwart erfreut.

Und so will ich denn aufhören, um nicht wieder von vorn anzufangen. Möge das was zunächst von meinen prosaischen oder poetischen Arbeiten zu Ihnen gelangt, eine frohe Unterhaltung geben und das Andenken eines Treu-Angehörigen lebhaft erneuern.

angelegentlichst

Weimar den 28. Januar 1828.

J. W. v. Goethe.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Carl Friedrich von Reinhard. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7E6C-4