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An Wilhelm von Humboldt

Wie oft, mein theurer verehrter Freund, habe ich diese Woche her mich an Ihre Seite geflüchtet, Ihre[302] trefflichen Blätter wieder vorgenommen und mich daran erquickt.

Wie das Erdbeben von Lissabon fast im Augenblick seine Wirkung auf die entferntesten Seen und Quellen spüren ließ, so sind auch wir von jener westlichen Explosion, wie vor vierzig Jahren, unmittelbar erschüttert worden.

Wie trostreich, in solchen Augenblicken, mit Ihre unschätzbaren Blätter zu Handen kommen mußten, werden Sie selbst empfinden und sich geneigtest aussprechen. Durch den entschiedensten Gegensatz ward ich in jene Zeiten zurückgeführt, wo wir uns zu einer ernsten gemeinsamen Bildung verpflichtet fühlten, wo wir, mit unserm großen edlen Freund verbunden, dem faßlich Wahren nachstrebten, das Schönste und Herrlichste, was die Welt uns darbot, zu Auferbauung unsres willigen sehnsüchtigen Innern, zu Ausfüllung einer stoff- und gehaltbedürftigen Brust, auf das treulichste und fleißigste zu gewinnen suchten.

Wie schön und herrlich ist es nun daß Sie auf jenen glücklichen Boden Ihre letzte Darstellungen gründen, daß Sie mich und meine Bestrebungen in jener operosen zeit zu entziffern und das, was daran zufällig, ermangelnd eines Zusammenhangs, einer Folge scheinen möchte, auf einige geistige Nothwendigkeit, auf individuelle charakteristische Verknüpfungen, aufmerksam und liebevoll, zurückführen mochten.

Hier läge nun zu mündlicher Unterhaltung das[303] schönste Thema. Niederzuschreiben ist es nicht, wie ich mich in Ihren Worten bespiegelt, wie ich über vieles aufgeklärt, zugleich auch wieder aufgefordert wurde, über manches Räthselhafte, das dem Menschen in ihm selbst jederzeit übrig bleibt, nachzudenken und den innern Zusammenhang mancher sich im Individuum kreuzenden und, trotz eines gewissen Widerspruchs, sich umschlingenden und vereinigenden Eigenschaften ernstlich nachzudenken.

Hierher gehört vorzüglich mein Verhältniß zur bildenden Kunst, dem Sie eine so dankenswerthe Aufmerksamkeit geschenkt haben. Es ist wunderbar genug daß der Mensch auch unwiderstehliche Triebe fühlt, dasjenige auszuüben, was er nicht leisten kann, dadurch aber doch in seinen eigentlichen wahren Leistungen auf das reellste gefördert wird.

Damit aber dieser lange verzögerte Brief nicht noch ferner zurückbleibe, so will ich schließen, aber doch zugleich vermelden, daß, indem ich Vorstehendes ausgesprochen, ich wieder zu Ihren Blättern zurückkehre und durch eine frische Abspiegelung zu neuen Betrachtungen aufgefordert und an jene Zeiten mächtig erinnert werde, wo wir, zwar nicht persönlich, aber doch im Sinne vereint, jener idyllischen Tage, schon im Alter beide vorgeschritten, mit Jugendkraft und Lust genossen.

Mein Sohn nimmt nun schon seit sechs Monaten an der Fülle Theil, die, auf der unschätzbaren Erdzunge,[304] Natur und Jahrhunderte an Leben gehäuft und zerstört, an Künsten erbaut und eingerissen, an Menschenschicksalen, Nationalität und Persönlichkeiten auf das wunderbarste durch einander gewürfelt haben.

Er ging mit dem Dampfschiff von Livorno nach Neapel, wo er sich noch gegenwärtig aufhalten mag, ein Entschluß, der, gelungen, ganz besondere Vortheile gebracht hat. Er fand Professor Zahn daselbst, und sich, bey dessen Leitung über und unter der Erde, völlig einheimisch.

Da Sie sich nun auch, mein Theuerster, an's Dictiren gewöhnen, so wenden Sie, in guter freyer Stunde, manchmal ein freundliches Wörtchen an mich; damit man des lange schon gegönnten Zusammenseyns auf diesem Erdrunde von Zeit zu Zeit öfter und entschieden gewahr werde. Ungern reiß ich mich von dieser Mittheilung los; wieviel ich zu sagen habe, schwebt mir vor, doch will ich dießmal nur noch den Glückstern segnen, der sich, in diesen Augenblicken, über Ihnen und Ihrem würdigen Herrn Bruder so glänzend hervorhebt. Möge Ihnen und uns allen das so schön Eingeleitete zu folgereichem Genuß gedeihen.

und so fortan!

Weimar d. 19 Oktbr. 1830.

J. W. v. Goethe. [305]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Wilhelm von Humboldt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7E99-D