10/3021.

An Georg Christoph Lichtenberg

[Concept.]

[etwa 20. October.]

Durch mein langes Zögern Ew. Wohlgeb. wieder zu schreiben habe ich schon so viel verloren, daß ich gegenwärtig um desto mehr eile meinen Dank für Ihren gütigen Brief abzustatten. Wie sehr bedaure ich, daß Ihr thätiger Geist von körperlichen Umständen immer gehindert wird, und wie sehr bewundere ich, was Sie trotz aller Hindernisse leisten.

Bey meinem zweymaligen Feldzuge habe ich wenig erfreuliche Erfahrungen gemacht und nur die doppelte Neigung womit ich zu einer stillen Thätigkeit und zu den Wissenschaften wiederkehre, kann mich für die vielen traurigen Stunden entschädigen, die ich seit [116] anderthalb Jahren zugebracht habe. Erlauben Sie, daß ich Sie von Zeit zu Zeit und wenn auch nur Stückweise von meinen Bemühungen wissen lasse, die durch Ihre Theinehmung so außerordentlich befördert werden können.

Zuerst dank ich für die Bekanntschaft, die Sie mir mit der französischen Schrift verschaffen; ich bitte mir solche bald möglich zu überschicken: denn wir mögen noch so geneigt seyn auf Zweifel und Widerspruch zu hören; so ist es doch unserer Natur gar zu gemäß, dasjenige begierig zu ergreifen, was mit unserer Vorstellungsart überein kommt.

Nach diesem aufrichtigen Bekenntniß bitte ich Ew. Wohlgeb. mich eben für so aufrichtig zu halten, wenn ich versichere, daß Ihre Bedenklichkeiten mir von dem größten Gewichte sind. Können Sie sich manches in meinem Aufsatze nicht ganz erklären; scheint Ihnen die Reihe der Experimente nicht so rein, die daraus gezogene Folgerungen nicht so überzeugend; so muß mich das auf meine Versuche, auf meine Methode und mein Urtheil mißtrauisch machen. Ich werde meinen französischen Collegen sorgfältig studieren, sowohl seine Versuche, als das was mir bisher Neues bekannt geworden, nachtragen, auf Ew. Wohlgeb. Bemerckungen alle Rücksicht nehmen, und die Resultate meiner Arbeit abermals vorlegen. Man kann in jedem Theile der Naturlehre, besonders aber in diesem nicht vorsichtig genug zu Werke gehn.

[117] Was Ew. Wohlgeb. über das Weiß in Ihrem Briefe äußern scheint mir der Lehre gemäß zu seyn, welche das Weiß aus vereinigten Farben entstehen läßt. Ich behalte mir vor, meine Vorstellungsart hierüber vorzulegen und Ihrer Prüfung zu unterwerfen.

Das Phänomen, das Ew. Wohlgeb. in dem orangefarbenen Planspiegel bemerkt, habe ich unter die Zahl derjenigen aufgenommen, welche uns die Reflection darstellt. Ist der Spiegel blau, so erscheint das Phänomen umgekehrt, das von der Oberfläche zurückgeworfene Bild des Stabes erscheint nunmehr blau, das von der Belegung gelb, gelbroth, bräunlich roth. Ist der Spiegel grün, so erscheint das obere Bild grün, das untere violet oder purpur; jederzeit mit entgegengesetzten Farben, wie bey den farbigen Schatten. Es kommen noch einige merkwürdige Umstände dabey vor, welche ich in einer Folge auszuführen und nebst einer kleinen Vorrichtung, wodurch sie ganz bequem beobachtet werden können, Ew. Wohlgeb. mitzutheilen nicht verfehlen werde, sollte ich auch nur bringen, was Ihnen schon bekannt ist; so werde ich doch wenigstens dadurch meinen Eifer zur Wissenschaft und mein Zutrauen zu Ihnen an den Tag legen.

Wenn an einerley Orte, zu verschiedenen Zeiten, unter scheinbar einerley Umständen verschiedene farbige Schatten zum Vorschein kommen; so ist es meiner Meynung nach ein Beweis, daß sich die Umstände [118] wirklich geändert haben. Büffon sah blaue Schatten an einer weißen Wand, des Abends, kurz vor Sonnenuntergang. Eben denselben Schatten sah er des andern Abends grün; er bemerkte aber dabey daß die Sonne purpurroth unterging. Und so ist es auch: ein purpurrothes Licht macht die entgegengesetzten Schatten grün, so wie ein Grünes die entgegengesetzten Schatten purpurroth und nach seinen verschiedenen Nüancen auch wohl auf das anmuthigste violet färbt.

Man nehme bey dem gewöhnlichen Versuche, wo man das Kerzenlicht dem schwachen Tageslicht entgegen setzt, ein hellgrünes Glas und halte es vor das Licht: sogleich wird der gelbe Schatten grün, der blaue hingegen purpurroth oder violet erscheinen.

Man kann diesen Versuch auch noch auf eine auffallende Weise vermannichfaltigen: Man lege bey heiterm Himmel und hellem Sonnenschein ein weißes Papier ins Freye, man halte einen Stab darauf und der Schatten wird mehr oder weniger blaulich erscheinen. Man nehme darauf eine grüne Glasscheide und lasse das Sonnenlicht durch selbige auf das Papier fallen, davon ein Theil also grün erscheinen wird, man stelle den Stab in dieses grüne Licht, und der Schatten desselben wird sogleich violet erscheinen.

Eben so ist der Schatten gelblich wenn das Glas blau, blau wenn das Glas gelb ist. Grau ist aber und bleibt der Schatten auch mitten im gefärbten Lichte wenn man den Versuch am Fenster einer Camera [119] obscura macht und die Einwirckung des Tageslichtes abhält. Von meiner Meinung wie sich das grau zu den Farben verhält gebe ich nächstens Rechenschaft.

Wie nah diese Versuche mit den sogenannten couleurs accidentelles verwandt sind, ist Ew. Wohlgeb. nicht entgangen. Auch hier läßt sich eine Reihe schöner Versuche aufstellen, die mit jenen vollkommen Schritt halten; hier ist also wohl nichts Zufälliges, wohl aber eine Übereinstimmung verschiedener Erfahrungen deren Mannigfaltigkeit wir durch die Sinne erkennen; deren Übereinstimmung aber wir mit dem Verstande nicht begreifen, viel weniger mit Worten ausdrucken können. Unser Geist sieht sich, wie leider so oft, auch hier in dem Falle entweder die Phänomene einzeln neben einander stehen zu lassen, oder sie in einer hypothetischen Einheit mehr zu verschlingen als zu verbinden. Wie vieles ist uns noch selbst, wie vieles unsern Nachkommen vorbehalten.

Ew. Wohlgeb. sind mit allen diesen Operationen unserer Seele so genau bekannt, und von wem ließ sich wohl mehr Beyhülfe, Aufmunterung und Berichtigung erwarten, so bald Sie den Gegenstand für wichtig genug halten ihm einiges Nachdenken zu widmen, und den Forschen so werth, um ihm Ihre Gedanken mitzutheilen.

Das Phänomen, dessen Sie gegen das Ende Ihres Briefes erwähnen, habe ich neulich in einem eminenten Grade gesehen. Ich betrachtete durch die Öffnung der [120] Camera obscura die Sonne durch ein dunkel violettes Glas, deren Scheibe mir denn in dem lebhaftesten Purpur erschien; als ich wieder herein sah und mein Blick auf einen schwarzen Mantel fiel; so erschien mir dieser vollkommen grün. Einige Zeit vor her war ich auf folgende Versuche geleitet.

An eine weiße Wand stellte ich ein etwa dreyzöllig vierecktes gelbes Papier und sah scharf darauf, sodann blickt ich in die Höhe und richtete meine Augen unverwandt auf einen bestimmten Fleck der weißen Wand: An gedachtem Platze erschien mir bald ein blauliches Viereck, so wie im Gegentheil mir ein gelbes erschien, wenn das untere Viereck blau war, und so veränderte sich auch bey veränderten Farben des Gegenstandes die Farbe der Erscheinung nach den Gesetzen wie sie mir aus den Phänomenen der farbigen Schatten zu folgen schienen. Auch hiervon will ich, was mir bekannt ist, zusammen schreiben und vorlegen, mit der Bitte die Specimina eines Liebhabers und Autodidacten freundlich aufzunehmen.

Beguelins Arbeit kenne ich; es ist nichts besonderes in seinen Erfahrungen, nichts entscheidendes in seiner Meynung. Opoix scheint ein Maratianer zu seyn, die der Bewegung alle Farbenapparenz zuschreiben möchten, wie Neutons Nachfolger fast ausschließend alles aus der Brechung zu erklären dencken. Ein Wink von Ew. Wohlgeb. den ich in Crells Vorrede zu Delaval gefunden habe, hat mir [121] große Freude gemacht. Ich bin dadurch aufs neue aufgemuntert worden, die verschiedenen Bedingungen unter denen uns apparente Farben erscheinen, so viel als möglich seyn will von einander zu sondern und das Fachwerk worin ich die manigfaltigen Erfahrungen und Versuche hineintrage eher zu weit als zu eng zu machen.

Erhalten mir Ew. Wohlgeb. Ihr freundschaftliches Andenken und glauben Sie daß es mir gleicher Ernst um die Wissenschaft und um Ihre Gewogenheit sey und bleibe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1793. An Georg Christoph Lichtenberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8010-0