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An Carl Friedrich Zelter

Auf deinen lieben Brief, welcher mir heute, am 23. März, zukommt, erwidere Folgendes. Deiner Beystimmung bin ich immer gewiß, denn du liebst wie ich vom Anfang anzufangen und so gehen wir parallel mit einander, können uns auch unterwegs deshalb von Zeit zu Zeit die Hand reichen.

Ich sagte neulich bey einer Gelegenheit, die ich vielleicht bald näher bezeichne: il faut croire à la simplicité! zu Deutsch: man muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig Prouctive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben; wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln als zu dem Einfachen zurückzukehren.

Deine Empfehlung des empfehlenswerthen Krügers traf mit einer andern an unsern Großherzog gerichteten gar glücklich zusammen. Er trat gestern Abend als Mortimer mit Beyfall auf; meine Kinder und Freunde sagten hierüber verständig das Beste. Heute bat ich ihn zu Tische, wo die versammelten Theaterfreunde sich reichlich und anmuthig ergingen, wovon er auch gewiß den besten Eindruck in sich aufgenommen hat. Mittwochs spielt er den Orest in meiner Iphigenie, aber es ist mir ohnmöglich hineinzugehen, wie [102] er wohl wünschte. Was soll mir die Erinnerung der Tage, wo ich das alles fühlte, dachte und schrieb.

Doch ist mir in dieser letzten Zeit eine ähnliche Pein geworden. Ein Engländer, der wie andere umnicht Deutsch zu lernen nach Deutschland gekommen war, verführt durch geistreich gesellige Unterhaltung und Anregung, machte den Versuch, meinen Tasso in's Englische zu übersetzen. Die ersten Probestellen waren nicht zu verwerfen, im Fortsetzen ward es immer besser, nicht ohne Eingreifen und Mitwirken meines häuslichen, wie eine Schraube ohne Ende sich umdrehenden Sprach- und Literaturkreises.

Nun wünscht' er, daß ich das ganze Stück gern und mit Bequemlichkeit durchlesen möchte, deshalb ließ er sein Concept in groß Octav, mit neuen Lettern, sehr anständig abdrucken, und ich ward dadurch freylich compromittirt, dieses wunderliche Werk, das ich, seitdem es gedruckt ist, nie wieder durchgelesen, solches auch höchstens nur unvollständig vom Theater herab vernommen hatte, mit Ernst und Sorgfalt durchzugehen. Da fand ich nun, zu meiner Verwunderung, mein damaliges Wollen und Vollbringen erst wieder am Tage, begriff, wie junge Leute Vergnügen und Trost finden können, in wohlgestellter Rede zu vernehmen, daß andere sich auch schon einmal so gequält haben wie sie selbst jetzt gequält sind. Die Übersetzung ist merkwürdig, das wenige Mißverstandene ist nach meiner Bemerkung abgeändert, der [103] Ausdruck kommt nach und nach immer besser in Fluß, die letzten Acte und die passionirten Stellen sind vorzüglich gut.

Nun ist auch, mein Theuerster, dein Brief vom 23. März angekommen und ich habe darauf wie immer zu erwidern, daß es eine Freude sey mit dir zu verkehren. Du nimmst dir, nach alter Weise, einen prägnanten Punct heraus und entfaltest ihn zum besten Verständniß und Nutzanwendung, und mich freut nun erst mein gefundenes Waizenkorn, da du dasselbe zu einer reichen Ernte gefördert hast. Die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst ist die ewige unerläßliche Forderung! Aristoteles, der das Vollkommenste vor sich hatte, soll an den Effect gedacht haben! welch ein Jammer!

Stünden mir jetzt, in ruhiger Zeit, jugendlichere Kräfte zu Gebot, so würde ich mich dem Griechischen völlig ergeben, trotz allen Schwierigkeiten die ich kenne; die Natur und Aristoteles würden mein Augenmerk seyn. Es ist über alle Begriffe was dieser Mann erblickte, sah, schaute, bemerkte, beobachtete, dabey aber freylich im Erklären sich übereilte.

Thun wir das aber nicht bis auf den heutigen Tag? An Erfahrung fehlt es uns nicht, aber an der Gemüthsruhe, wodurch das Erfahrne ganz allein klar, wahr, dauerhaft und nützlich wird. Man sehe die Lehre von Licht und Farbe, wie sie vor meinen sichtlichen Augen Professor Fries in Jena vorträgt; es [104] ist die Hererzählung von Übereilungen, deren man sich seit mehr als hundert Jahren im Erklären und Theoretisiren schuldig macht. Hierüber mag ich öffentlich nichts mehr sagen, aber schreiben will ich's; irgend ein wahrhafter Geist ergreift es doch einmal.

Nun aber nur wenige Worte zu den Aushängebogen, die ich dir nur im Allgemeinen empfehlen will – Vater Hamlet im Schlafrock ist dir gewiß willkommen. – Die serbischen lustig-leichtfertigen Weiber, so wie die zarten zärtlichen chinesischen Fräulein wirst du nach Gebühr begrüßen. – Die Tabelle wird eingeschaltet und fordert, wie du wohl siehst, noch ein Vor- und Nachwort, welches denn auch nächstens erfolgen wird.

Vierzehn gedruckte Bogen meines vierten Bandes liegen auch schon vor mir; der nächste Transport bringt die Helena, welches funfzigjährige Gespenst endlich im Druck zu sehen mir einen eignen Eindruck machen wird. In vier bis fünf Wochen habt ihr das Ganze; manches wird neu seyn, manches neu erscheinen, und das Alte hoffentlich nicht veraltet.

In meiner Vorrede zu Manzoni's Werken bey Frommanns findest du nur eigentlich das Bekannte aus Kunst und Alterthum. Doch hab ich bey Gelegenheit Chöre einiges Wunderliche gesagt, das du dir gewiß mit Freunden zueignest.

Das Vortreffliche (so sag ich hier in Bezug auf den Anfang) sollte durchaus nicht bekrittelt noch besprochen, [105] sondern genossen und andächtig im Stillen bedacht werden. Da aber die Menschen dieß weder begreifen noch ergreifen, so wollen wir's thun und uns dabey wohl befinden.

An Doris habe ich ein sehr artiges Fräulein adressirt, das ein wundersames Kunst- und Handwerks-Naturell vom Vater geerbt hat. Wäre ihre Bildung musicalisch, wie jetzt bildnerisch, so würdest du sie nicht von der Seite lassen. Herr Posch, der Wachsbildner, nimmt sie mit nach Berlin. Dieser alte geschickte Künstler hat unserm Großherzog, der ihn von Paris her kannte, vier Wochen lang sehr angenehme Unterhaltung gegeben. Der Fürst ließ die ganze Familie in allen Zweigen und Abstufungen porträtiren; Herzog Bernhard und die Seinigen waren auch noch hier; was profilable war ist gut gerathen.

Noch ist mit wenigen zu melden daß die Revision unsrer Correspondenz immer fortgeht, mir und Riemern Gelegenheit zu den Anmerkungen gibt und die wünschenswertheste Unterhaltung gewährt.

treu der Deine

Weimar den 29. März 1827.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1827. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-822F-B