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An Thomas Carlyle

Ihr gehaltreicher Brief vom 18. April ist zur rechten Zeit bey mir angekommen und hat mich im Drange gar mannichfaltiger Umstände getroffen. Ich erhole mich gegenwärtig einigermaßen, um die dritte [136] Lieferung meiner Werke anzukündigen, der ich wie der vorigen eine gute Aufnahme hoffen darf. Das Neue, bisher noch nicht Gedruckte sey Ihnen besonders empfohlen.

Herr Skinner ist wieder bey uns und berichtet viel Gutes und Freundliches von Ihnen und Ihren Zuständen; freylich müssen wir Sie nun, an einem andern Orte, so lange in unbestimmteren Localitäten denken, bis ein reisender Freund uns wieder durch genauere Schilderung näher bringt.

Vier Hefte Ihrer zwey Zeitschriften die sich mit fremdem Interesse beschäftigen liegen vor mir, und ich muß wiederholen, daß vielleicht noch nie der Fall eintrat, daß eine Nation um die andere sich so genau umgethan, daß eine Nation an der andern soviel Theil genommen als jetzt die schottische an der deutschen. Eine so genaue als liebevolle Aufmerksamkeit setzt sich durchaus fort und fort, ja ich darf sagen, daß ich gewisse Eigenheiten vorübergegangenen bedeutenden Menschen abgewonnen sehe in dem Grade, um mir gewissermaßen Angst zu machen, solche Persönlichkeiten, die mir im Leben gar manchen Verdruß gebracht, möchten wieder auferstehen und ihr leidiges Spiel von vorne beginnen. Dergleichen war der unselige Werner, dessen fratzenhaftes Betragen bey einem entschiedenen Talente mir viel Noth gemacht, indessen ich ihn auf's treuste und freundlichste zu fördern suchte. Ich mußte Ihren Aufsatz zuerst weglegen, bis in der Folge die Bewunderung Ihrer Einsicht [137] in dieses seltsame Individuum den Widerwillen besiegte den ich gegen die Erinnerung selbst empfand.

Desto erfreulicher war mir Ihre Behandlung derHelena. Sie haben auch hier sich nach eigner schöner Weise benommen, und da zu gleicher Zeit aus Paris und Moskau über dieses so lang gehegte und gepflegte Werk mir zwey Aufsätze zukamen, so sprach ich mich darüber lakonisch folgendergestalt aus: Der Schotte sucht das Werk zu durchdringen, der Franzose es zu verstehen, und der Russe sich es anzueignen. Unverabredet haben also diese drey die sämmtlichen Kategorien der Theilnahme an einem ästhetischen Werke dargestellt; wobey sich versteht daß diese drey Arten nicht entschieden getrennt seyn können, sondern immer eine jede die andere zu ihren Zwecken zu Hülfe rufen wird. Da ich mich aber in solche Betrachtungen nicht einlassen darf, ob gleich bey solchem Zusammenstellen gar manches Erfreuliche und Nützliche zu sagen wäre, so habe ich einen jungen Freund ersucht, sich darüber auszusprechen mit Rücksicht auf die unter uns geführten Gespräche.

Es ist Dr. Eckermann, der sich bey uns aufhält und den ich als Hausgenossen anzusehen habe. Er macht die hier studirenden jungen Engländer mit der deutschen Literatur auf eine sehr einsichtige Weise bekannt und ich muß wünschen, daß er auch mit Ihnen in Verhältniß trete. Er ist von meinen Gesinnungen, von meiner Denkweise vollkommen unterrichtet, [138] redigirt und ordnet die kleineren Aufsätze wie sie in meinen Werken abgedruckt werden sollen und möchte wohl, wenn diese noch weitaussichtige Arbeit zu vollenden mir nicht erlaubt seyn sollte, alsdann kräftig eintreten, weil er von meinen Intentionen durchaus unterrichtet ist.

Die Übersetzung des Wallensteins hat auf mich einen ganz eignen Eindruck gemacht, da ich die ganze Zeit, als Schiller daran arbeitete, ihm nicht von der Seite kam, zuletzt, mit dem Stück völlig bekannt, solches vereint mit ihm auf das Theater brachte, allen Proben beywohnte und dadurch mehr Qual und Pein erlebte als billig, die nachfolgenden Vorstellungen nicht versäumen durfte, um die schwierige Darstellung immer höher zu steigern; so läßt sich's den ken, daß dieses herrliche Stück mir zuletzt trivial, ja widerlich werden mußte; auch hab ich es in zwanzig Jahren nicht gesehen und nicht gelesen. Nun aber da ich es unerwartet in Shakespeare's Sprache wieder gewahr werde, so tritt es auf einmal wie ein frisch gefirnißtes Bild in allen seinen Theilen wieder vor mich, und ich ergötze mich daran wie vor Alters und noch dazu auf eine ganz eigene Weise. Sagen Sie das dem Übersetzer grüßend, nicht weniger auch, daß die Vorrede, die eben auch in dem rein-theilnehmenden Sinne geschrieben ist, mir wohlgethan habe; nennen Sie mir ihn auch, damit aus dem Chor der Philo-Germanen er als eine einzelne Person hervortrete.

[139] Hier aber tritt eine neue, vielleicht kaum empfundene, vielleicht nie ausgesprochene Bemerkung hervor: daß der Übersetzer nicht nur für seine Nation allein arbeitet, sondern auch für die aus deren Sprache er das Werk herüber genommen. Denn der Fall kommt öfter vor als man denkt, daß eine Nation Saft und Kraft aus einem Werke aussaugt und in ihr eigenes inneres Leben dergestalt aufnimmt, daß sie daran keine weitere Freude haben, sich daraus keine Nahrung weiter zueignen kann. Vorzüglich begegnet dieß den Deutschen, die gar zu schnell alles was ihnen geboten wird verarbeiten und, indem sie es durch mancherlei Wiederholungen umgestalten, es gewissermaßen vernichten. Deshalb denn sehr heilsam ist, wenn ihnen das Eigne durch eine wohlgerathene Übersetzung späterhin wieder als frisch belebt erscheint.

Beyliegenden Brief erhalte von dem guten Eckermann, mit welchem ich Sie, wie schon gesagt, in Verbindung wünsche. Er wird jede Anfrage die Sie an ihn ergehen lassen gern beantworten und kann Sie mit dem Neusten unserer Literatur, insofern es Ihnen nützt und frommt, nach Verlangen bekannt machen.

treu theilnehmend

Weimar den 15. Juni 1828.

J. W. v. Goethe.


Leider überrascht uns bey'm Schluß dieses Schreibens die traurige Nachricht vom Ableben unsres vortrefflichen Fürsten, des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, [140] welcher am 14. Juni auf einer Rückreise von Berlin nahe bey Torgau das Zeitliche verließ. Ich eile Gegenwärtiges abzusenden. Mit den Büchern kommt noch manches zu Bemerkende.

Mit den schönsten Grüßen von mir und Ottilien an Ihre liebe Gattin, mit dem Wunsche zu hören daß Sie in Ihrer neuen Wohnung glücklich eingerichtet seyen, fernere Mittheilung mir vorbehaltend.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Thomas Carlyle. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-836D-C