10/2986.

An Johann Gottfried und Caroline Herder

Eure Briefe, meine Lieben, mit dem zweiten Theile kamen eben an, als ich den ersten übergeben mochte. Der Herzog dankt und grüßt. Nach dem letzten Überfall und veränderten Lager haben wir uns wieder angebaut. Ich habe ein hübsches Zelt, gerade gegen Sonnenaufgang gerichtet, bringe die einsamen Stunden des heißen Tages in einer großen, mit Fichtenreis beschützten Laube zu, die der Herzog zum Speisesaal errichten ließ. Oft bin ich im Hauptquartier; der General Kalkreuth setzt sein gütiges Betragen gegen mich ununterbrochen fort. Ich sehe viel Menschen,[74] höre und sehe, was begegnet, und bin sehr zufrieden hier zu sein und mich mit so vielen in Geduld zu fassen, da Ihr in der Ferne gewiß ungeduldiger seid. An Übergabe der Stadt, wie an Belagerung ist noch so bald nicht zu denken.

Dem Bürgergeneral wünscht' und hofft' ich Euren Beifall und ist mir um so lieber, daß Ihr es gut zuerst habt spielen sehen. Die kleinen Productionen haben den Vortheil, daß sie fast eben so geschwind geschrieben als erfunden sind. Von dem Moment, in dem ich die erste Idee hatte, waren keine drei Tage verstrichen, so war es fertig. Ich hoffe, es soll mich weder ästhetisch noch politisch reuen, meiner Laune nachgegeben zu haben.

Ich habe meinen Genius verehrt, daß er mich unterwegs sowohl als in Weimar den Propheten nicht antreffen ließ. – Die Welt ist groß; laßt ihn lügen drin! – Wo sich dieses Gezücht hinwendet, kann man immer voraus wissen. Auf Gewalt, Rang, Geld, Einfluß, Talent pp. ist ihre Nase wie eine Wünschelruthe gerichtet. Er hofirt der herrschenden Philosophie schon lange. Dagegen tat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radicalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.

[75] Denn so ist es beschaffen, so wird es bleiben und also –. Die Obelisken und Asterisken an Reineke gehe ich fleißig durch, und corrigire nach Einsicht und Laune. Ohne diese Beihülfe des critischen Bleistifts wäre ich nicht im Stande meinen Verbesserungswillen zu richten und zu fixiren. Lebet wohl. Empfehlt mich den Herzoginnen und den Freunden.

Anfangs war hier sehr kühles Wetter nun ist es heiter und heiß, was ich denn sehr wohl ertragen kann. Grüßt die Kinder. Tausendmal Adieu.

Bei Marienborn den 7. Juni 93.

G.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1793. An Johann Gottfried und Caroline Herder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8467-1