49/148.

An Sulpiz Boisserée

Für Ihren werthen Brief im Allgemeinen und zum allerschönsten dankend, will ich nur eiligst die wichtige Frage wegen des Regenbogens zu erwidern anfangen. Hier ist mit Worten nichts ausgerichtet, nichts mit Linien und Buchstaben; unmittelbare Anschauung ist Noth und eigens Thun und Denken. Schaffen Sie also augenblicklich (siehe beyliegende Zeichnung) eine hohe Glaskugel an a, etwa 5 Zoll [198] mehr oder weniger im Durchmesser, wie sie Schuster und Schneider überall brauchen, um das Lampenlicht auf den Punct ihrer Arbeit zu concentriren, füllen solche mit Wasser durch das Hälschen und verschließen solche durch einen Stöpfel b, stellen sie auf ein fester Gestelle gegen ein verschlossenes Fenster d, treten alsdann, mit dem Rücken gegen das Fenster gekehrt in e, etwas zur Seite, um das in der Rückseite der Kugel sich präsentirende umgekehrte Fensterbild f zu schauen, fixiren solches und bewegen sich ganz wenig nach Ihrer rechten Hand zu, wo Sie denn sehen werden daß die Glastafeln zwischen den Fensterleisten sich verengen und zuletzt, von den dunklen Kreuzen völlig zusammengedrängt, mit einer schon vorher bemerkbaren Farbenerscheinung verschwinden und zwar ganz am äußersten Rande g, die rothe Farbe glänzend zuletzt.

Diese Kugel entfernen Sie nicht aus Ihrer Gegenwart, sondern betrachten sie hin- hergehend bey'm hellsten Sonnenschein, Abends bey Licht. Immer werden Sie finden daß ein gebrochenes Bild an der einen Seite der Kugel sich abspiegelt und so, nach innen gefärbt, sich, wie Sie Ihr Auge nach dem Rande zu bewegen, verengt und, bey nicht ganz deutlichen mittlern Farben, entschieden roth verschwindet.

Es ist also ein Bild, und immer ein Bild, welches refrangirt und bewegt werden muß; die Sonne selbst ist hier weiter nichts als ein Bild. Von Strahlen ist gar die Rede nicht; sie sind eine Abstraction, die [199] erfunden wurde, um das Phänomen in seiner größten Einfalt allenfalls darzustellen, von welcher Abstraction aber fortoperirt, auf welche weiter gebaut, oder vielmehr aufgehäuft, die Angelegenheit zuletzt in's Unbegreifliche gespielt worden. Man braucht die Linien zu einer Art von mathematischer Demonstration, sie sagen aber wenig oder gar nichts, weil von Massen und Bildern die Rede ist, wie man sie nichts darstellen und also im Buche nicht brauchen kann.

Haben Sie das angegebene ganz einfache Experiment recht zu Herzen genommen, so schreiben Sie mir auf welche Weise es Ihnen zusagt, und wir wollen sehen, wie wir immer weiter schreiten, bis wir es endlich im Regenbogen wiederfinden.

Mehr nicht für heute, damit Gegenwärtiges als das Nothwendigste nicht aufgehalten werde.

Treu beharrend

Weimar den 11. Januar 1832.

J. W. v. Goethe.


[200]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1832. An Sulpiz Boisserée. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-871F-D