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An Friedrich August Wolf

Weimar den 28. November 1806.

Warum kann ich nicht sogleich, verehrter Freund, da ich Ihren lieben Brief erhalte, mich wie jene Schwedenborgischen Geister, die sich manchmal die Erlaubniß ausbaten, in die Sinneswerkzeuge ihres Meisters hineinzusteigen und durch deren Vermittelung die Welt zu sehen, auf kurze Zeit in Ihr Wesen versenken und demselben die beruhigenden Ansichten und Gefühle mittheilen, die mir die Betrachtung Ihrer[235] Natur einflößt. Wie glücklich sind Sie in diesem Augenblick vor Tausenden, da Sie so viel Reichthum in und bey sich selbst finden, nicht nur des Geistes und bey Gemüths, sondern auch der großen Vorarbeiten zu so mancherley dingen, die Ihnen doch auch ganz eigen angehören. Wäre ich also auf jene magische weise in Ihr ich eingedrungen, so würde ich es bewegen, seine Reichthümer zu überschlagen, seine Kraft gewahr zu werden und zu irgend einem literarischen Unternehmen, wäre es auch nur für die erste Zeit, sogleich zu greifen. Sie haben die Leichtigkeit sich mitzutheilen, es sey mündlich oder schriftlich. Jene erste Art hatte bisher einen größern Reiz für Sie, und mit Recht. Denn bey der Gegenwirkung des Zuhörers gelangt man eher zu einer geistreichen Stimmung, als in der Gegenwart des geduldigen Papiers. Auch ist die beste Vorlesung oft ein glückliches Inpromptu, eben weil der Mund kühner ist als die Feder. Aber es tritt eine andre Betrachtung ein. Die schriftliche Mittheilung hat das große Verdienst, daß sie weiter und länger wirkt, als die mündliche, und daß der Leser schon mehr Schwierigkeiten findet, das Geschriebene nach seinem Modul umzubilden, als der Zuhörer das Gesagte.

Da Ihnen nun jetzt, mein Werthester, die eine Art der Mittheilung, vielleicht nur auf kurze Zeit, verlangt ist, warum wollen Sie nicht sogleich die andre ergreifen, zu der Sie ein eben großes Talent und [236] einen beynah reichern Stoff haben. Es ist wahr und ich sehe es wohl ein, daß Sie in Ihrer Weise zu leben und zu wirken eine Veränderung machen müssten; allein was hat sich nicht alles verändert, und glücklich der, der, indem die Welt sich umdreht, sich auch um seine Angel drehen kann. Neue Betrachtungen treten ein, wir leben unter neuen Bedingungen, und also ist es auch wohl natürlich, daß wir uns, wenigstens einigermaßen, neu bedingen lassen. Sie sind bisher nur gewohnt, Werke herauszugeben, und die strengsten Forderungen an dasjenige zu machen, was Sie dem Druck überliefern. Fassen Sie nun den Entschluß, Schriften zu schreiben, und diese werden immer noch Werkhafter seyn, als manches andre. Warum wollen Sie nicht gleich Ihre Archäologie vornehmen, und sie als einen compendiarischen Entwurf herausgeben? Behandeln Sie ihn nachher immer wieder als Concept, geben Sie ihn nach ein paar Jahren umgeschrieben heraus. Indessen hat er gewirkt, und diese Wirkung erleichtert die Nacharbeit. Nehmen Sie, damit es Ihnen an Reiz nicht fehle, mehrere Arbeiten auf einmal vor, und lassen Sie anfangen zu drucken, ehe Sie noch recht entschlossen haben. Die Welt und Nachwelt kann sich alsdann Glück wünschen, daß aus dem Unheil ein solches Wohl entstanden ist. Denn es hat mich doch mehr einmal verdrossen, wenn so köstliche Worte an den Wänden verhallten. Auf diese Weise können Sie den Winter mit [237] sich selbst bleiben; welches das Beste ist, was man jetzt thun kann. Denn wo man hinsieht und hintritt, sieht es wild und verworren aus; und das allgemeine Übel zerspellt sich doch eigentlich nur in unzählige einzelne Mährchen, deren ewige Wiederholung die Einbildungskraft mit häßlichen und unruhigen Bildern anfüllt, und zuletzt selbst ein gesetztes Gemüth angreift. Haben wir ein halbes Jahr hin, so sieht man eher, was sich herstellt Jahr hin, so sieht man eher, was sich Stelle bleiben kann, oder ob man wandern muß; und das letzte sollte man gewiß nur äußersten Nothfall ergreifen. Denn der Boden schwankt überall und im Sturm ist es ziemlich gleich, auf welchem Schiff der Flotte man sich befindet.

Soviel über die wichtige Frage, vielleicht schon zuviel. Ich spreche freylich nur nach meiner Denkweise, die ich Ihnen wohl überliefen kann. Indessen handle ich selbst nach dieser Lehre. An dem Farbenwesen wird ziemlich rasch fortgedruckt. Einen Entwurf der Morphologie gedenk' ich auch bald unter die Presse zu bringen, und meine Träume über Bildung und Umbildung organischer Wesen, wenigstens einigermaßen, in Worten zu fixiren. An den Aushängebogen, von Tübingen her, sehe ich auch, daß die erste Lieferung meiner ästhetischen Arbeiten bald hervortreten wird; und so muß man denn, in Erwartung besserer Zeiten, die gegenwärtige nutzen und vertreiben, sogut man kann.

[238] Tausend Lebewohl, mit lebhaften Wunsch eines baldigen Wiedersehens und längeren Zusammenseyns, als das letzte antediluvianische war.

G.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1806. An Friedrich August Wolf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-88FC-4