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An Johann Erichson

[Concept.]

Indem ich die mir anvertrauten Gedichte zurückschicke, füge ich nach Ihrem Wunsch einige Betrachtungen bey. Sie scheinen mir in dem Irrthum zu stehen, den ich schon bey mehreren Jünglingen bemerkt habe, daß man einer Neigung zur Poesie, die man fühlt, sich ausschließlich überlassen müsse, da doch selbst dem Dichter, den die Natur entschieden dazu bestimmt haben mag, erst Leben und Wissenschaft den Stoff geben, ohne welchen seine Arbeiten immer leer bleiben müßten. Nach meiner Einsicht versäumen Sie vielmehr gar nichts, wenn Sie sich dem thätigen Leben oder den Wissenschaftlichen widmen, denn erst alsdann wenn Sie in einem dieser Kreise eine weite[111] Bahn durchlaufen haben, werden Sie Ihres Talents gewiß werden. Bemächtigt es sich aller Erfahrungen und Kenntnisse die Sie gesammelt haben mit Gewalt, weiß es alle die fremdesten Elemente in eine Einheit zu verbinden, so ist das Phänomen da, welches Sie zu wünschen scheinen, das aber auf keinem andern Wege hervorgebracht werden kann. Sollte sich im Gegentheil zeigen, daß diese Neigung zur Dichtkunst jene Probe nicht aushielte, so würden Sie doch den andern Gewinn rein besitzen. Auch kann es niemand gereuen, selbst wenn er zu ganz andern Dingen bestimmt ist, sich wenigstens mit den äußern Formen der Dichtkunst bekannt gemacht zu haben. Der ich recht wohl zu leben wünsche.

W. den 28. April 1797.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1797. An Johann Erichson. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8E55-6