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An Thomas Carlyle

Eckermann an Carlyle.

Mein theurer Herr und Freund!

Verzeihen Sie, daß ich mit einer Antwort auf Ihr letztes werthes Schreiben bis jetzt in Rückstand geblieben bin. Ich erhielt es im April einen Tag vor meiner Abreise nach Italien mit Herrn v. Goethe, dem Sohn. ich bin in voriger Woche von dieser Reise nach Weimar zurückgekehrt, jedoch allein, indem jeneer Freund, wie Sie vielleicht auch aus den Zeitungen werden gesehen haben, in Rom seine irdische Bahn beschlossen hat. Seine Familie hat diesen Verlust eines geliebten Mitgliedes schmerzlich empfunden, sich jedoch nach und nach in das Unabänderliche, Geschehene ergeben und sich nunmehro ganz wieder dem Lebendigen und Thätigen zugewendet. Besonders ist Goethe's hohes Wirken keinen Tag unterbrochen worden, wie man denn an Ihm überhaupt die Maxime zu verehren hat, jedes unnütze Leiden durch nützliche Thätigkeit zu überwältigen.

Kaum war ich nun einige Tage wieder hier, als Goethe in der Nacht vom 25. auf den 26. November mit einem heftigen Blutsturz erwachte, so daß Sein Leben in Gefahr schwebte und nur ein schneller Aderlaß und eine so kräftige Natur wie die Seinige Ihn retten konnte. Sie mögen [32] denken, daß ganz Weimar dadurch in große Aufregung und in nicht geringe Sorge versetzt wurde. Am zweyten Tage jedoch ließ uns die beruhigende Aussage seines trefflichen Arztes, des Hofrath Vogel, schon wieder die beste Hoffnung schöpfen, und so ist denn Goethe von Tag zu Tag seiner vollkommenen Genesung entgegenneschritten, so daß Er jetzt schon wieder auf, und in gewohnter Weise beschäftiget ist, wiewohl Er sich noch stille bey Sich hält und wie billig noch alle äußere Anregung vermeidet. Die Krankheit war also nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, und wir schöpfen aus diesem glänzenden Sieg Seiner unvergleichlichen Natur die sicherste Hoffnung, Ihn nunmehro noch manches schöne Jahr in vollkommenen Kräften thätig voran zu sehen.

Vor allen freue ich mich nun auf die Vollendung des Faust, woran jetzt soviel gethan, daß sie nicht ferner zu den Unmöglichkeiten zu rechnen ist. Ich freue mich dazu als zu einem Werk, das an Umfang und innerem Reichthum nicht seines Gleichen haben ird, indem es nicht allein nach allen Verhältnissen der geistigen und sinnlichen Welt hinrührt, sondern auch die menschliche Brust mit allen ihren Leidenschaften und Thätigkeiten, mit ihren Richtungen auf das Wirkliche, so wie auf die imaginären Regionen des Glaubens und Aberglaubens vollkommen ausspricht, und zwar in allen denkbaren Formen und Versen der Poesie. Deutschland wird sich daran üben, um es zu verstehen und vollkommen zu genießen, und die Nachbarnationen werden es ihren vorzüglichsten Talenten danken, wenn sie dieses deutsche Product durch immer gelungenere Versionen bey sich national machen.

Es steht mir zwar nicht zu, Ihnen zu rathen, wäre ich jedoch an Ihrer Stelle, so würde ich sicher für meine Nation etwas Dankbares unternehmen, wenn ich die schönsten Mußestunden [33] einiger Jahre auf eine treue Übersetzung des Faust verwendete. Die Proben Ihrer Helena haben zur Genüge gezeigt, daß Sie nicht allein das deutsche Original vollkommen verstehen, sondern auch Ihre eigene Sprache genugsam in Ihrer Gewalt haben, um das Empfundene und Verstandene anmuthig und geistreich wieder auszudrücken. Die Übersetzung des Lord L. Gower mag denen genügen, die das Original nicht kennen, und man mag sie als Vorläufer eines Besseren schätzen, allein genau beshen mag es ihm gefehlt haben, beides, an Einsicht wie an Muth.

Man soll aber nie fragen, ob eine Nation für ein Werk reif sey, bevor man wagen will, es ihr zu bringen. In solcher Erwartung hätte Goethe noch lange Zeit haben mögen. Die Nationen aber reifen an ihnen kühnen Werken heran, und man soll ihnen daher das Beste nicht vorenthalten.

Ich hatte vor, Ihnen noch manches von meiner Reise zu schreiben, ich wollte Ihnen von manchem großen Eindruck erzählen, den ich gehabt, wie mich der Mont Blanc und Monte Rosa, so wie der Garda- und Genfer See in Bezug auf die Farbenlehre beschäftiget; auch daß ich auf meiner Rückreise mich der Übersetzung Ihres Lebens von Schiller erfreut; allein es fehlt mir heute an Raum wie an Zeit; und ich schließe für dießmal mit den herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre Frau Gemahlin, und mit dem Wunsch, recht bald wieder von Ihnen zu hören.

Ihr treuer Freund Eckermann

Weimar den 6. December 1830.


Glücklicherweise kann ich eigenhändig hinzufügen daß ich lebe und hoffen darf noch eine Zeitlang in der Nähe meiner Geliebten zu verweilen, Gruß und Segen! den theuern Gatten!

[34] Ihre beyden Briefe sind angelangt, der nach Berlin bestellt.

Weimar. d. 7. Dec. 1830.

J. W. v. Goethe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Thomas Carlyle. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9148-D