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An Georgine Weppen

[Concept.]

[Weimar 4. Juli 1819.]

Die Gedichte des Timotheus a Lyra haben etwas Anziehendes; man gewahrt sogleich die Gegenwart eines reinen, anspruchslosen, frei umherschauenden, sich seiner Vergangenheit ruhig erinnernden jungen Mannes. Man vernimmt gern, wie er seine innern Zustände, sie mögen gegenwärtig oder vorüber seyn, mild und sinnig ausspricht; selbst sein Streben nach[207] dem Unerreichbaren ist mäßig, so drückt sich auch sein Widerwille ohne Härte und Heftigkeit aus. Kein scharf hypochondrischer Zug macht ihn lästig, man erfreut sich seines Daseyns und kann hoffen, auch in seiner Gegenwart diesem angenehmen Gefühl ungestört zu folgen.

Sein poetischer Ausdruck stimmt hiemit vollkommen überein, sowohl in der obern als untern Rhythmik zeigt sich geschmackvoll das Gehörige. Soll man aber weiter sprechen, so muß man sagen: Man findet ihn immer allein, denn nicht einmal eine Geliebte wird man recht gewahr, man fürchtet für ihn und die Gedichte sind bedenklich, und indem man mit ihm als einem Einzelnen einsam umgehet, ist man zwar so glänzend und bewegt als möglich wünscht, so müßte man in dieser wahrhaft ländlichen Ruhe und anmuthlichen Beschaulichkeit nun auch Mittheilungen erwarten, welche die Einbildungskraft beflügelten und die Leidenschaft bewegten.

Hätte ich unserm Timotheus zunächst im praktischen Sinne einen Rath zu geben, so ginge er dahin, sich auf die lakonische Ballade zu werfen, auf die nächste und köstliche Art, worin man alles thun und woran man viel lernen kann; deshalb auch, wenn von Kritik oder vielmehr von Didaskalie die Rede ist, bei dieser [208] Dichtart am ehsten, deutlichsten und sichersten unter Kunstfreunden sich handeln läßt. Das Weitere nachzusehen im westöstlichen Divan Seite 381.

Soviel, meine Liebe, kann ich eilig erwidern, da Ihre Sendung mich augenblicklich ereilt, indem ich eine Sommerreise anzutreten im Begriff bin. Ich fühle recht gut daß so zarte Verhältnisse, wie die Iris ausspricht, zu berühren, man mit anmuthiger Bestimmtheit und vorsichtiger Genauigkeit verfahren müsse. Doch was hiezu erfordert wird, kann ich jetzo von mir selbst nicht verlangen und Ihr schönes Gemüth das ich aus Ihrem Brief recht wohl erkenne, wird diese Blätter zum besten deuten und benutzen.

Mit neu aufgeregtem Gefühl, in die Ferne auf persönlich Unbekannte zu wirken.

Jena den 1. July 1819.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1819. An Georgine Weppen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-952E-B