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An Carl Friedrich Zelter

Nachdem wir also über die Verzweiflung der Gegenwart, so wie über einige Bedenklichkeiten der Ferne durch deine freundliche Auslegung glücklich hinüber gekommen, so wollen wir nun den Augenblick desto höher werth achten und ihm das Mögliche für die Zukunft abzugewinnen suchen.

Vom nächsten also zu reden sage nur soviel: daß unter den vier, von Ulriken begünstigten Engländern einer ganz in Verzweiflung ist deine musikalischen Großheiten nicht vernommen zu haben; er ist, ich weiß nicht ob mit Talent und Beruf, der Musik leidenschaftlich ergeben, spielt alle Tage drey Stunden Violoncello mit unserm Hase, kommt nirgends hin als wo gespielt und gesungen wird. Dieser eigentlich war es welchen Ulrike deiner freundlichen Aufnahme, insofern es die Umstände vergönnten, werth hielt; sie hatten sich fest vorgesetzt und versprochen, Mittwoch Abend wieder hier zu seyn, um Donnerstag Abends[127] sich auf einen Ball einzufinden, der nun leider, durch den Tod der Frau Großherzogin von Darmstadt, ajournirt werden mußte.

Ein Wort von meiner Lectüre! Mit den Memoiren von Bourrienne bin ich bis zum 8ten Bande gekommen. Erinnerung und Aufklärung gesellen sich für und in diesem Werke. Merkwürdig ist zu lesen die neue Ansicht eines wichtigen Punctes der Geschichte: der Verfasser macht höchst wahrscheinlich, daß Napoleon nie den Vorsatz gehabt nach England über zu setzen, vielmehr habe er unter dieser Vorspiegelung eigentlich nur die Absicht gehegt den Kern einer großen, thätigen, zu allem bereiten Heeresmacht zu bilden und um diese Mitte her eine Truppenmasse dergestalt disponirt und locirt, daß er sie, in der kürzesten Zeit, an und über den Rhein bringen könne, welches ihm denn auch auf den Grad gelungen daß er, wider aller Menschen Denken und Vermuthen, Ulm eingeschlossen und in seine Gewalt bekommen habe. Von den Folgen dieses Zuges nicht weiter zu reden.

Aufgefordert unsre Gedanken dorthin zurück zu wenden, fühlen wir uns von einem neuen Staunen angewandelt. Es ist ein Glück daß zur Zeit da wir dieses erlebten das Ungeheure solcher Ereignisse uns nicht deutlich werden konnte.

Nun aber von mir selbst etwas zu sagen so ist alles was ich gegenwärtig persönlich leiste rein testamentlich. Das Manuscript der siebenten Lieferung [128] ist abgegangen, das der achten ist so gut wie beysammen und so wäre denn Ostern das Ziel erreicht, welches ich zu erleben kaum hoffen durfte.

Nun aber muß möglichst redigirt werden, was unter meinen übrigen Papieren von angefangenen und angedeuteten Papieren befindlich seyn möchte von einigem Werth, auch ist meine Correspondenz von einigen Jahren her durchzusehen; am meisten aber fordert mich auf dasjenige zu retten was ich für Naturkunde gethan habe. Von den dreyhundert Naturforschern, wie sie zusammengekommen, ist keiner der nur die mindeste Annäherung zu meiner Sinnes-Art hätte, und das mag ganz gut seyn. Annäherungen bringen Irrungen hervor. Wenn man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen will, so müssen es Confessionen seyn, man muß sich als Individuum hinstellen wie man's denkt, wie man's meint, und die Folgenden mögen sich heraussuchen was ihnen gemäß ist und was im Allgemeinen gültig seyn mag. Dergleichen blieb uns viel von unsern Vorfahren.

Womit also für heute die Unterhaltung möge geschlossen seyn.

Paganini hörte gestern Abend.

Weimar den 1. November 1829.

Goethe.

Kannst du ohne Beschwerlichkeit einleiten daß sie mir noch ein paar ordinaire Exemplare des Musenalmanaches zusenden so hilfst du mir einige Gefälligkeit zu erwidern deren ich unzählige schuldig werde.

[129]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9BF9-B