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An Berthold Georg Niebuhr

Römische Geschichte von Niebuhr.

Es möchte anmaßend scheinen, wenn ich auszusprechen wage, daß ich dieses wichtige Werk in wenigen Tagen, Abenden und Nächten von Anfang bis zu Ende durchlas und daraus abermals den größten Vortheil zog; doch wird sich diese meine Behauptung erklären lassen und einiges Zutrauen verdienen, wenn ich zugleich versichere daß ich schon der ersten Ausgabe die größte Aufmerksamkeit gewidmet, und sowohl dem Inhalt als dem Sinne nach an diesem Werke mich zu erbauen hatte.

[138] Wenn man Zeuge ist wie in einem so hellen Jahrhunderte doch in manchen Fächern die Kritik ermangelt, so erfreut man sich an einem Musterbilde, das uns vor das Auge gestellt zu begreifen gibt, was Kritik denn eigentlich sey.

Und wenn der Redner dreymal betheuern muß, daß Anfang, Mittel und Ende seiner Kunst durchaus Verstellung sey, so werden wir an diesem Werke gewahr, daß Wahrheitsliebe, lebendig und wirksam, den Verfasser durch dieses Labyrinth begleitet habe. Er setzt seine frühern Behauptungen eigentlich nicht fort, sondern er verfährt nur auf dieselbige Weise wie gegen alte Schriftsteller so auch gegen sich selbst und gewinnt der Wahrheit einen doppelten Triumph. Denn dieß Herrliche hat sie, wo sie auch erscheine, daß sie uns Blick und Brust öffnet und uns ermuthiget, auch in dem Felde wo wir zu wirken haben auf gleiche Weise umher zu schauen und zu erneuten Glauben frischen Athem zu schöpfen.

Daß mir nach einen eiligen Lesen manches im Einzelnen nachzuholen bleibe, sey denn aufrichtig gestanden; aber ich sehe voraus daß der hohe Sinn des Ganzen sich mir immer kräftiger entwickeln wird.

Indessen ist mir zu einiger froher Aufmunterung schon genug geworden, und ich vermag auf's neue mich eines jeden redlichen Strebens aufrichtig zu erfreuen und mich gegentheils über die in den Wissenschaften obwaltenden Irrungen und Irrthümer, besonders [139] über consequente Fortführung des Falschen, so wie des durch schleichende Paralogismen entstellten Wahrhaften, zwar nicht eigentlich zu ärgern, aber doch mit einem gewissen Unwillen gegen jeden Obskurantismus zu verfahren, der leider nach Beschaffenheit der Individuen seine Maske wechselt und durch Schleyer mancherlei Art selbst gesunden Blicken den reinen Tag und die Fruchtbarkeit des Wahren zu verkümmern beschäftigt ist.

Vorstehendes liegt schon seit dem 8. Februar unter manchen andern stockenden Blättern; es war kein Gebrauch davon zu machen, denn es sagt von dem Buche das mich zu dieser Äußerung veranlaßte eigentlich gar nichts; sondern es drückt nur den damaligen Zustand meines Geistes und Gemüthes leidenschaftlich aus. Doch entschließ ich mich gegenwärtig, da ich dem verehrten Verfasser jenes Werkes von meiner Seite eine kleine Zusendung veranstalte, davon eine Abschrift vertraulich mitzutheilen; denn es kann ihm doch von Bedeutung seyn, zu sehen wie seine eigensten Bemühungen in's Allgemeine wirken, und indem sie unterrichten, auch zugleich, als herrlichste Wirkung, den Glauben an Wahrheit und Einfalt beleben und ermuthigen.

Weimar den 4. April 1827.

[140] Dieses Blatt sollte das neuste Heft von Kunst und Alterthum begleiten; da aber desselben Abschluß zögert, so möge es hiedurch angekündigt und ich selbst zu fernerem wohlwollenden Andenken empfohlen seyn.

treu theilnehmend

Weimar den 15. April 1827.

J. W. v. Goethe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1827. An Berthold Georg Niebuhr. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9C82-F