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An Susanna Katharina von Klettenberg

Gnädge Fräulen. d. 26. Aug.

Ich binn heute mit der kritischen Gemeine hingegangen, mich an des Herren Leiden und Todt zu erinnern, und Sie können rathen, warum ich mich diesen Nachmittag unterhalten, und einen so saumseeligen Brief, endlich im Ernste treiben will. Es geht unsern besten Freunden mit uns, wie es Gott selbst zu gehen pflegt; zu ieder Liebe gehört eine Sammlung, und ich wollte ausgeworffene Schaupfennige ehe wieder gesammelt haben, als zerstreute Gedancken, und besonders hier, unter denen Umständen worinn ich mich ietzo befinde.

Und doch scheinen sie nicht wenig zu versprechen. Die viele Menschen die ich sehe die vielen Zufälle die mir queer über kommen geben mir Erfahrungen und Kenntnisse von denen ich mir nichts habe träumen lassen. Ubrigens ist mein Körper iust so gesund um eine mäßige, und nötige Arbeit zu tragen, und um mich bey Gelegenheit zu erinnern daß ich weder an Leib noch an Seele ein Riese binn.

Mein Umgang mit denen frommen Leuten hier ist nicht gar starck, ich hatte mich im Anfange sehr starck an sie gewendet; aber es ist als wenn es nicht seyn sollte. Sie sind so von Herzen langweilig wenn[245] sie anfangen, daß es meine Lebhafftigkeit nicht aushalten konnte. Lauter Leute von mäsigem Verstande, die mit der ersten Religionsempfindung, auch den ersten vernünftigen Gedanken dachten, und nun meynen das wäre alles, weil sie sonst von nichts wissen; dabey so hällisch und meinem Graffen so feind, und so kirchlich und püncktlich, daß – ich Ihnen eben nichts weiter zu sagen brauche.

Es kömmt noch was dazu. Die Vorliebe für unsre eignen Empfindungen und Meynungen, die Eitelkeit eines ieden Nase dahin drehen zu wollen wohin unsre gewachsen ist; Fehler denen solche Leute die eine gute Sache haben mit der größten Sicherheit nachhängen.

Wie offt habe ich ** die Sache seiner Grillen und die Sache Gottes vermischen hören wenn er seinen Vetter ausschalt. Ich hab den Mann gern wir sind gute Freunde; aber schon als Hausvater ist er zu streng, und Sie können sich dencken was herauskommt wenn er die seiner Pflichten der Religion von seinen iungen rohen Leuten beobachtet haben will.

Eine andre Bekandtschafft, grad das Widerspiel von dieser, hat mir bisher nicht wenig genutzt. Ich soll durch alle Klassen gehn, so scheints gnädge Fräulen.

Herr ** ein Ideal für Mosheimen oder Jerusalemen, ein Mann, der durch viel Erfahrung mit viel Verstand gegangen ist; der bey der Kälte des Bluts [246] womit er von ieher die Welt betrachtet tat, gefunden zu haben glaubt: daß wir auf diese Welt gesetzt sind besonders um ihr nützlich zu seyn, daß wir uns dazu fähig machen können, wozu denn auch die Religion etwas hilfft; und daß der Brauchbaarste der beste ist. Und alles was draus folgt.

Uebermorgen ist mein Geburtstag; schweerlich wird eine neue Epoque von ihm angehen; dem sey wie ihm wolle so betet mit mir, für mich, daß alles werde, wie's werden soll.

Die Jurisprudenz fangt an mir sehr zu gefallen. So ists doch mit allem wie mit dem Merseburger Biere, das erstemal schauert man, und hat mans eine Woche getruncken, so kann mans nicht mehr laßen. Und die Chymie ist noch immer meine heimlich Geliebte.

Es ist doch immer noch der alte Geck! der

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1770. An Susanna Katharina von Klettenberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9E81-0