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An Christian Gottfried Hermann

Lieber Herr Assessor

Ich danke Ihnen für das Denkzettelgen. Ich sehe, daß Sie mich noch lieben und das freut mich sehr, [226] da ich Sie noch immer sehr liebe und offt an Sie denke. Daß ich nicht geschrieben habe, wird Ihnen verständlich seyn. Neues Leben, neue Bekanntschafften, und hernach können Sie sich vorstellen, wie viel einer zu thun hat, seine Wissenschaften in Ordnung zu bringen, der drey Jahre zu Leipzig die guten Studien zu studiren sich angelegen seyn ließ.

Gegen Ende März will ich meinen Flug weiter nehmen. Zuerst nach Strasburg, wo ich gerne mögte meine iuristischen Verdienste gekrönt haben. Von da marschire ich (salvis accidentibus) nach Paris. Und von da – das weiß Gott. – Und Sie behalten mich in bleibendem Andencken, bis ich einmal wiederkomme.

Wenn unter meinen Liedern Ihnen etwas gefallen hat, so freut michs. Daß ich mit der Zeit was bessers machen werde, hoff ich; mit uns Quasi modo genitis muß man Geduld haben.

Mahlerey und Musik und was Kunst heißt, ist noch immer meinem Herzen so nah als ehmals.

Was macht Oeser? Ich habe lange nichts von ihm gehört; sagen Sie ihm das freundschaftlichste Kompliment. Ich werde noch einmal an ihn schreiben, eh ich von hier gehe.

Hr. Reich hat mir die »Dialogen des Diogenes« auf der Post geschickt, und ich habe sie auf der Post gelesen, es war das liebste Geschenk, das er mir hätte machen können. Die Kupfer sind exzellent, und das Buch ist von Wielanden. Man muß seinen Namen[227] nennen, denn den Charakter, die Laune dieses Mannes zu schildern oder zu beurtheilen, ist nichts für uns.

Ueber große Leute sollte Niemand reden, als wer so groß ist wie sie, um sie übersehen zu können. Ein kleiner, wenn er zu nah steht, sieht einzelne Theile gut, aber nichts vom Ganzen, und wenn er das Ganze übersehen will, so muß er sich zu weit entfernen, und da reichen seine Augen nicht an die Theile. Verzeihen Sie mir diese Allegorie. Grüßen sie den Hrn. Obereinnehmer Richter, dem ich ehestens schreiben werde und lieben Sie mich. Ich bin wie im Gartenhaus, wie in der grünen Stube, wie immer

Frfurt, am 6. Febr. 1770.

Ihr Goethe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1770. An Christian Gottfried Hermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9EEB-6