1815, 8. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Dienstag den 8. abends liest Goethe wieder Stücke aus dem Divan. »Der Schenke.« Kuß auf die Stirne. Eifersucht. Das Mädchen sei eine böse ermüdende Liebhaberei für den alten Freund. Das Ganze als ein edles, freies pädagogisches Verhältniß, als Liebe und Ehrfurcht der Jugend gegen das Alter; vorzüglich schön ausgesprochen in einem Gedicht: die kürzeste Nacht, wo Morgenroth und Abendroth zugleich am Himmel sind. Astronomie. Ethik. Ein anderes Gedicht bezieht sich auf den schönen, jungen, blonden Kellner auf dem Geisberg. Dann wieder eins auf die kleine Paulus in [205] Heidelberg, mit seinem Schwänchen von Pfirsichen, Kirschwasser und Mandeln.

Er macht mir die Confession, daß ihm die Gedichte auf einmal und ganz in den Sinn kämen, wenn sie recht wären; dann müßte er sie aber gleich aufschreiben, sonst finde er sie nie wieder; darum hüte er sich auf den Spaziergängen etwas auszudenken. Es sei ein Unglück, wenn er es nicht ganz im Gedächtniß behalte, sobald er sich besinnen müßte, würde es nicht wie der gut, auch ändere er selten etwas; ebenso sei es ein Unglück, wenn er Gedichte träume, das sei meist ein verlorenes. Ein italienischer Poet (Petrarca s. Wilken) habe sich aus diesem Grund ein ledernes Wamms machen lassen, worauf er im Bett habe schreiben können. Italienische Reise. Goethes Freude an der Architektur, seine rein persönliche Leidenschaft für Palladio, bis ins grasseste nichts als Palladio und Palladio. Freilich lebt er in Vicenza und Venedig in seinen Werken und Wirksamkeit noch im lebendigen Andenken. Wuth und Haß gegen die gothische Architektur; er läßt diese Stelle wegen mir weg, daß ich sehe, welch ein braver Kerl er sei. Die Menschen wie sie aber wären, würden so etwas gleich mißverstehen. Am Ende mache es sich auch in der Composition besser, wenn es wegbleibe; sonst freilich lasse er alles wie es sei, weil die Tagebücher so vollständig seien.

Er führt das Gespräch weiter; was die Verhältnisse mit Fürsten theuer und werth mache, sei das Beständige [206] und Beharrliche darin, wenn einmal ein Vertrauen entstanden; so zwischen ihm und dem Herzog. Durch allen Wechsel der Verhältnisse und Gesinnungen durch habe der Herzog immer denselben gefunden; gesehen, daß er einen braven, ehrlichen Menschen an ihm habe, und so sei der Herzog noch jetzt wie in ihrem Freundschaftsverhältniß; er habe ihm kürzlich einen Brief geschrieben, ein Resultat seiner Lectüre während langer Unpäßlichkeit, ganz wie aus jener Zeit so herzlich.

Timurs Winterfeldzug, Parallelstück zu Napoleons Moskowitischem Feldzug. Kriegsrath. Der Winter tritt redend auf gegen Mars; Fluch oder Verheißung; groß, gewaltig. Haß des Kreuzes. Schirin hat ein Kreuz von Bernstein gekauft, ohne es zu kennen; ihr Liebhaber Cosken findet es an ihrer Brust, schilt gegen die westlich nordische Narrheit u.s.w. Zu bitter, hart und einseitig, ich rathe, es zu verwerfen. Goethe: Er wolle es seinem Sohn zum aufheben geben, dem gebe er alle seine Gedichte, die er verwerfe; er habe eine Menge, besonders persönliche und zeitliche. Es sei nicht leicht eine Begebenheit, worüber er sich nicht in einem Gedicht ausgesprochen. So habe er seinen Ärger, Kummer und Verdruß über die Angelegenheiten des Tages, Politik u.s.w. gewöhnlich in einem Gedicht ausgelassen, es sei eine Art Bedürfniß und Herzenserleichterung, Sedes p. Er schaffe sich so die Dinge vom Halse, wenn er sie in ein Gedicht bringe. Sonst [207] habe er dergleichen immer verbrannt; aber sein Sohn verehre alles von ihm mit Pietät, da lasse er ihm den Spaß.

Napoleon hat ihm imponirt, er habe den größten Verstand, den je die Welt gesehen. Daru habe ihn präsentirt in demselben Saal der Statthalterei in Erfurt, wo er in seiner Jugend mit Schiller, dem Herzog und dem Coadjutor Dalberg so viele Späße getrieben, und frohe Stunden erlebt. Da sei noch Berthier gewesen und Soult und andere, denen er alle zugleich Audienz gegeben; sie habe mehr als eine Stunde, ja zwei gedauert; er habe immer abwechselnd von Geschäften mit jenen, dann wieder mit ihm gesprochen. (Goethe scheint nicht gemerkt zu haben, ober nicht bemerken wollen, daß dies alles angelegt gewesen, um ihm zu imponiren; wie ich mir's auslege.) Daru habe ihn präsentirt mit dem Bemerken, er habe Mahomet übersetzt, da habe Napoleon gesagt: Mahomet est une mauvaise pièce. Dann habe er es entwickelt, und so richtig, als es nur zu verlangen. Goethe bemerkte: »Ei, er der ein anderer Mahomet war, mußte sich wohl darauf verstehen.« Ich sprach von Ostentation, und wie er den armen Müller bethört. Die Ostentation warf er weg, mit Müller das war ein ander Verhältniß, weil er eben der arme Müller war. Napoleon habe sehr viel und trefflich über Tragödie mit ihm gesprochen, wo der Refrain immer gewesen: qu'en dit Mr. Goethe. Napoleon habe ihn, was doch etwas sagen wolle, zum [208] Lachen gebracht; so daß er sich darob entschuldigen zu müssen geglaubt; wisse nun aber nicht mehr zu sagen, was es denn eigentlich betroffen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 8. August. Mit Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9FDB-2