1822, 11. Juni.


Mit Friedrich von Müller
und August von Goethe

Gegen 7 Uhr Abends ging ich zu ihm, und zwar zuerst in den Garten. Ich traf zuerst den Sohn, der sich in einer Laube mit seinem kleinen Walther behaglich niedergelassen hatte. Bald erschien auf dem grünumrankten Balkon der alte Herr, und ließ es sich gefallen herabzusteigen, da er wohl merkte, daß es mir im Garten besser gefallen möchte. Wir wandelten erst auf und nieder, von meinem Reiseprojecte an den Rhein sprechend, dann von dem wunderschönen Sommer, den Goethe nur in Rom noch anhaltender erlebt zu haben sich erinnerte. Als wir uns auf die freundliche Bank, nah am Gartenhause, niederließen, wo wir einst [155] vor zwei Jahren, am Vorabend einer Abreise Goethes nach Böhmen mit Line Egloffstein so traulich gesessen hatten, kam das Gespräch gar bald auf Howard den Quäker und auf seine neueste Schrift über die Londoner Witterung, die Goethe ungemein lobte. »Sein von ihm selbst aufgesetztes Leben habe ich für die Morphologie übersetzt; er spricht darin lange nicht so duckmäuserig als ein Herrnhuter, sondern heiter und froh. Christ, wie er einmal ist, lebt und webt er ganz in dieser Lehre, knüpft alle seine Hoffnungen für die Zukunft und für diese Welt hieran, und das Alles so folgerecht, so friedlich, so verständig, daß man, während man ihn liest, wohl gleichen Glauben haben zu können wünschen möchte; wiewohl auch in der That viel Wahres in dem liegt, was er sagt. Er will, die Nationen sollen sich wie die Glieder einer Gemeinde betrachten, sich wechselseits anerkennen.«

»Ich habe,« fügte Goethe hinzu, »kürzlich einem Freunde geschrieben: Die Nationen sind an sich wohl einig über und unter einander, aber uneins in ihrem eignen Körper. Andere mögen das anders ausdrücken; ich habe mir den Spaß gemacht, es so zu geben.« Wir wandelten nun wieder umher, ärgerlich über den dichten Rauch, den uns ein plötzlicher Westwind von den Brauhäusern her zusandte. – Bezüglich auf Walter Scott sagte Goethe: »Ein Buch, das große Wirkung gehabt, kann eigentlich gar nicht mehr beurtheilt werden. Die Kritik ist überhaupt eine bloße [156] Angewohnheit der Modernen. Was will das heißen? Man lese ein Buch und lasse es auf sich einwirken, gebe sich dieser Einwirkung hin, so wird man zum richtigen Urtheil darüber kommen.«

Die von mir aus Wettin mitgebrachten Mineralien gaben zu geognostischen Gesprächen Anlaß. »Ich habe,« sagte er, »gar keine Meinung mehr, seit die meisten Meinungen der Gelehrten so absurd in dieser Materie sind: ewige Opposition, ewiges nicht Anerkennen dessen, was mühsam erforscht ist; jede Anschauung will man sogleich tödten und in bloße Begriffe auflösen. Ach, die Menschen sind gar zu albern, niederträchtig und methodisch absurd; man muß so lange leben als ich, um sie ganz verachten zu lernen.« Roscoe hat sein neues Werk »Illustrations« 1 Goethen überschickt. Lady Morgan ist ihm verhaßt. – »Die Constitutionen sind wie die Kuhpocken, sie führen über einmal grassirende Krankheiten leichter hinweg, wenn man sie zeitig einimpft.« Ich erzählte aus Aristophanes' Fröschen und tadelte seinen übertriebenen Cynismus. Goethe meinte, man müsse ihn wie den Casperle betrachten und läßlich nehmen. Meyers Abreise nach Wiesbaden gab Goethen Anlaß, großen Schmerz über wankende Gesundheit dieses alten Freundes kund zu geben. »Es ist entsetzlich für solche tüchtige, treffliche Männer besorgt sein zu müssen, und die Esperanza setzt sich nur auf den Rand der Urne.«

[157] In der letzten halben Stunde ward Goethe immer in sich gekehrter, abbrechender, er schien körperlich zu leiden, der besorgte Sohn mahnte mit Recht an den Rückzug und so schied ich um 8 1/2 Uhr ganz bedenklich und betrübt.


Note:

1 Mrs. Roscoe, Floral Illustrations.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1822. 1822, 11. Juni. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9FE9-2