1820, März.


Bei Goethe

Den andern Tag [nach der Verlobung Eduard Genast's mit Christine Böhler] empfing uns Goethe im Kreise seiner Familie, zu dem noch einige Freunde seines Hauses gezogen waren. Meine Schwägerin [Doris Böhler] hatte während unserer Reise [von Leipzig nach Weimar] das große Wort geführt und in muthwilliger Laune geäußert, was sie alles mit Goethe über seine Werke zu sprechen gedächte, als wir aber die Treppe zu ihm hinaufgingen, wurde sie ganz kleinlaut und flüsterte mir zu, daß sie gewaltige Kopfschmerzen hätte und lieber wieder umkehren wolle; ich hielt sie jedoch fest ..... Goethe trat uns mit liebenswürdiger Freundlichkeit entgegen ..... Nachdem ich meine Braut ihre Mutter und Schwester ihm, seiner geistreichen Schwiegertochter und den andern Herrschaften, die mir alle bekannt waren, vorgestellt, nahmen wir Platz, wobei Goethe meiner Braut den ihrigen an seiner Seite anwies. Goethe war kein Freund von langem Sitzen, nachdem einige Erfrischungen herumgereicht waren, stand er auf und trat mit meiner Braut ans Fenster, wo [19] er sich lange mit ihr unterhielt, und ich bedauerte nur, daß die Schicklichkeit es nicht erlaubte, mich zu ihnen zu gesellen, um der Unterredung beizuwohnen. Frau v. Pogwisch, die Mutter der Schwiegertochter des Hauses... knüpfte mit mir ein Gespräch an, wobei meine Augen immer nach den Fenstern schielten, wo er und sie standen, um zu sehen, welchen Eindruck Christine auf Goethe mache. Es mußte ein günstiger sein; denn seine Züge wurden immer wohlwollender und seine Augen immer lebhafter, was das beste Zeugniß seiner Zufriedenheit war. Dann sprach er mit meiner Schwiegermutter, meinem Vater und mir, wobei er sagte: »Du kannst Dich glücklich schätzen, dieses liebenswürdige Mädchen, das durch seine geistige Capacität und ihr edles weibliches Wesen mein ganzes Wohlwollen erworben hat, ins künftige die Deinige zu nennen. Nun möchte ich auch mit ihrer Schwester, von deren neckischer Laune mir Dein Vater so manches erzählt hat, einige Worte sprechen, aber ich kann der Kleinen nicht habhaft werden.«

Ja, die war in alle Ecken gekrochen, um nur aus der Nähe Goethe's zu kommen, solchen Respect hatte ihr seine Persönlichkeit eingeflößt. Ein Mädchen, das durch Witz und Munterkeit die Männerwelt bezauberte, war hier zum schüchternen Kinde geworden; ihre Schüchternheit verschwand jedoch nach und nach, als Goethe sie so freundlich ansprach, und bald lugte ihr glückliches Naturell hervor, an dem Goethe sich höchlich [20] ergötze; denn er sagte zu mir: »Auch die Kleine ist allerliebst.« Hieraus forderte er meine Braut auf, ihm etwas zu recitiren; bereitwillig declamirte sie ihm einige seiner Gedichte und die Rede der Prinzessin aus »Tasso«. Als sie geendet hatte, nickte er mit dem Kopfe und sagte: »Brav, mein Kind! Sinnig und charakteristisch vorgetragen! Ich wünschte mir wohl das Vergnügen, Sie auf der Bühne zu sehen.«

[21]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1820. 1820, März. Bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A02A-9