b.

Ob Goethe beim Dictiren im Zimmer aufundnieder gegangen sei, fragte ich weiter; denn es war für mich von Interesse, zu erfahren, unter welchen äußeren Umständen sich die erhabensten Gedankenfrüchte aus der körperlichen Rinde gelöst hätten. ›Auf und nieder ging er nicht‹; war die Antwort; ›denn dazu fehlte es in dem engen Zimmer an Raum. Goethe ging, wenn er dictirte, um den Tisch herum. Von dieser Art des Dictirens können Sie sich schwerlich eine Vorstellung machen: es floß ihm ohne Unterbrechung, ohne Stockung vom Munde, daß man Mühe hatte, mit der Feder zu folgen. Keine Störung konnte ihn wesentlich irre machen. Es geschah leider oft genug, daß er durch lästige Besuche abgerufen wurde; er zog dann gewöhnlich in der Eile einen blauen Überrock an und begab sich [135] in das Empfangszimmer. Wenn er aber zurückkehrte, nahm er das Dictat an der Stelle wieder auf, wo er stehen geblieben war, ohne sich die letzten Sätze erst in die Erinnerung zurückrufen zu lassen.‹

Dieses geläufige Produciren, meinte ich, sei wol eben daraus zu erklären, daß Goethe schon vor dem Dictiren die Stoffe jahrelang in sich herumgetragen, in seinem Geiste bewegt und theilweise schon völlig ausgearbeitet habe. ›Freilich wol!‹ bestätigte Schuchardt. ›Meyer, gegen den ich mich verwundert darüber aussprach, erzählte mir sogar: Goethe habe ihn aus einer Fahrt von Jena nach Weimar im Wagen ganze Abschnitte aus den »Wahlverwandtschaften«, von denen damals noch nichts niedergeschrieben gewesen, so geläufig vorgetragen, als ob er von einem Buche abgelesen habe. Aber es erklärt sich besonders daraus, daß Goethe sich beim Vortrage ganz in die Sache versetzte, alle Vorgänge, die er schilderte, im Geiste miterlebte. Er sprach mit mächtiger Stimme, mit dramatischem Ausdruck, und ich fuhr manchmal zusammen, wenn er, mir zu den »Wanderjahren« dictirend, die Personen drastisch oder pathetisch vorführte. Dabei schien er weder mich noch irgendetwas von seiner alltäglichen Umgebung zu bemerken.‹

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1825. Nach 1824.: Mit Christian Schuchardt und allgemeinesüber Goethes Gespräche. b.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A05D-8