1808, 28. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Goethes Geburtstag. Mit ihm über den neueren Roman, besonders den seinigen. Er äußerte:

Seine Idee bei dem neuen Roman »Die Wahlverwandtschaften« sei: sociale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen.

Abends über das antike Tragische und das Romantische. »Das antike Tragische ist das menschlich Tragirte. Das Romantische ist kein natürliches, ursprüngliches, sondern ein gemachtes, ein gesuchtes, gesteigertes, übertriebenes, bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karrikaturartige. Kommt vor wie ein Redoutenwesen, eine Maskerade, grelle Lichter-Beleuchtung. Ist humoristisch (d.h. ironisch vergl. Ariost, Cervantes; daher ans Komische grenzend und selbst komisch) oder wird es augenblicklich, sobald der Verstand sich daran macht, sonst ist es absurd und phantastisch. Das Antike ist noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich.

Das antike Magische und Zauberische hat Stil, das moderne nicht. Das antike Magische ist Natur menschlich betrachtet, das moderne dagegen ein bloß Gedachtes, Phantastisches.

Das Antike ist nüchtern, modest, gemäßigt, das Moderne ganz zügellos, betrunken. Das Antike erscheint [216] nur ein idealisirtes Reales, ein mit Großheit (Stil) und Geschmack behandeltes Reales; das Romantische ein Unwirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantasie nur ein Schein des Wirklichen gegeben wird.

Das Antike ist plastisch, wahr und reell; das Romantische täuschend wie die Bilder einer Zauberlaterne, wie ein prismatisches Farbenbild, wie die atmosphärischen Farben. Nämlich eine ganz gemeine Unterlage erhält durch die romantische Behandlung einen seltsamen wunderbaren Anstrich, wo der Anstrich eben Alles ist und die Unterlage nichts.

Das Romantische grenzt ans Komische (Hüon und Amanda, Oberon), das Antike ans Ernste und Würdige.

Das Romantische, wo es in der Großheit an das Antike grenzt, wie in den Nibelungen, hat wohl auch Stil, d.h. eine gewisse Großheit in der Behandlung, aber keinen Geschmack. Die sogenannte romantische Poesie zieht besonders unsere jungen Leute an, weil sie der Willkür, der Sinnlichkeit, dem Hange nach Ungebundenheit, kurz der Neigung der Jugend schmeichelt. Mit Gewalt setzt man Alles durch. Seinem Gegner bietet man Trotz. Die Weiber werden angebetet: Alles wie es die Jugend macht. – –

Alle irdische Poesie ist immer noch zu charakteristisch, rein objectiv zu sein, d.h. noch zu individuell, nicht generell genug. Ja, was uns als reines Object vorkommt, ist selbst noch Individuum. Die Sonne selbst ist ein Individuum, ob sie uns gleich als das reinste Object erscheint, da sie mit nichts zu vergleichen ist. [217] Alle empirische Poesie, selbst die uns am meisten objectiv erscheint, die griechische oder antike, ist doch nur charakteristisch und individuell, und imponiert uns nur dadurch, durch ihr streng Charakteristisches. Es ist ein erhöhtes Griechenthum, was uns entgegenkommt. Alles was uns imponiren soll, muß Charakter haben. Die Poesie an sich, ohne Charakter, ist nicht empirisch darzustellen.

Das Eigene einer jeden Landes- und Volkspoesie, besonders im Dramatischen, besteht darin, daß sie auf einem Gegensatz beruht, auf einen Gegensatz hinarbeitet, gleichsam vis-à-vis eines Gegensatzes sich in Bezug aus ihn heraushebt.

Das Drama macht bei den Franzosen einen viel stärkeren Gegensatz mit dem Leben, zum Zeichen, daß ihr gewöhnliches Leben ganz davon entfernt ist. Bei den Deutschen weniger, indem sie selbst schon im Leben wenigstens naiv, gemüthlich und poetisch sind.«

[218]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1808. 1808, 28. August. Mit Friedrich Wilhelm Riemer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A071-9