1823, 5. November.


Beim Abschied von Marie Szymanowska

Als ich [v. Müller] Nachmittags zu Goethe kam, traf ich ihn noch mit Mad. Szymanowska zu Tische sitzend; sie hatte eben an die ganze Familie bis zu dem kleinen Wolf herab, ihrem Liebling, die zierlichsten kleinen Abschiedsgeschenke, zum Theil eigner Hände Arbeit, ausgetheilt, und der alte Herr war in der wunderbarsten Stimmung. Er wollte heiter und humoristisch sein, und überall blickte der tiefste Schmerz des Abschieds durch.

Unentschieden ging er nach Tische hin und her, verschwand, kam und ging wieder. Dann zeichnete er sich in das Stammbuch der Casimira [Wolowska] ein.

»Rappelezmoi au souvenir de tout le monde, moi aussi je demanderai à tout le monde des nouvelles de vous.«

Um 6 Uhr war sie zur Abschiedsaudienz bei der Frau Großfürstin bestellt, wo sie, der Hoftrauer entsprechend, ganz schwarz gekleidet erschien, was für Goethe den Eindruck noch erhöhte. Der Wagen fuhr[312] vor und ohne daß er es bemerkte, war sie verschwunden. Es schien zweifelhaft, ob sie noch einmal wieder käme.

Da trat das Menschliche in Goethen recht unverhüllt hervor; er bat mich aufs Dringendste zu bewirken, daß sie nochmals wieder erscheinen, nicht ohne Abschied scheiden möchte. Einige Stunden später führten der Sohn und ich sie und ihre Schwester zu ihm.

»Ich scheide reich und getröstet von Ihnen,« – sagte sie zu ihm, – »Sie haben mir den Glauben an mich selbst bestätigt, ich fühle mich besser und würdiger, da Sie mich achten. Nichts von Abschied, nichts von Dank; lassen Sie uns vom Wiedersehen träumen. O, daß ich doch schon viel älter wäre und hätte einen Enkel bald zu hoffen, er müßte Wolf heißen, und das erste Wort, das ich ihn stammeln lehrte, wäre Ihr theurer Name.« »Comment,« erwiederte Goethe, »vos compatriotes ont eu tant de peine à chasser les loups de chez eux, et vous voulez les y reconduire?« Aber alle Anstrengung des Humors half nicht aus, die hervorbrechenden Thränen zurückzuhalten, sprachlos schloß er sie und ihre Schwester in seine Arme und sein Blick begleitete sie noch lange, als sie durch die lange offene Reihe der Gemächer entschwand.

»Dieser holden Frau habe ich viel zu danken,« sagte er mir später, »ihre Bekanntschaft und ihr wundervolles Talent haben mich zuerst mir selbst wiedergegeben.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 5. November. Beim Abschied von Marie Szymanowska. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A09C-B