1832, 22. März.


Letzter Tag

Morgens gegen 6 Uhr ließ er sich im Lehnstuhl aufrichten und ging aus seinem Schlafcabinette einige[160] Schritte in sein Arbeitszimmer. Hier, wo sie sich die Nacht hindurch verborgen gehalten, traf er seine Schwiegertochter an, zu welcher er freundlich scherzend sagte: »Ei, ei, Frauenzimmerchen! bist Du denn auch schon wieder heruntergekommen?« – Er ging jedoch, sich sehr matt fühlend, sogleich wieder auf den Lehnstuhl in seinem Schlafzimmer zurück.

.... Obgleich der Arzt bestimmt erklärt hatte, daß keine Hoffnung vorhanden sei, ihn von dem zurückgetretenen Katarrhalfieber zu retten, so wollten doch nicht alle in dem vordern Zimmer anwesenden Freunde dieser schmerzlichen Mittheilung Glauben beimessen, zumal da das Barometer seit gestern bedeutend gestiegen war und sie aus Erfahrung wußten, welchen starken Einfluß der Zustand der Luft auf Goethes Gesundheit ausübe. Auch der Kranke selbst sprach am Morgen gegen seine Schwiegertochter die Hoffnung auf Wiedererlangung seiner Gesundheit und Kräfte aus, indem er sagte: der April brächte zwar Stürme, aber auch schöne Tage, an denen er sich durch Bewegung in der freien Natur wieder stärken wolle; ja, den Arzt bat er, er möchte ihm keine Arznei mehr geben; es gehe ja so gut.

Gegen Sonnenaufgang verschlimmerte – wie der Arzt vorausgesagt – der Zustand sich bedeutend, und die Kräfte sanken mehr und mehr. Man hatte das Zimmer ganz dunkel gelassen, um den Kranken dadurch ruhiger zu erhalten, allein er sagte: »Gebt mir Licht;[161] die Dunkelheit ist unangenehm.« Bald aber schienen seine Augen zu leiden; denn er hielt wiederholt die Hand wie einen Schirm über dieselben, als wenn er sie schützen, oder etwas in der Ferne sehen wollte, sodaß man ihm den grünen Schirm gab, welchen er Abends bei dem Lesen zu tragen pflegte. Er forderte dann seine Schwiegertochter auf, sich neben ihn zu setzen, ergriff ihre Hand und hielt sie lange in der seinigen. 1

Gegen 9 Uhr verlangte Goethe, Wasser mit Wein vermischt zu trinken, und als ihm dieses gebracht wurde, richtete er sich im Lehnstuhle auf, ergriff das Glas mit fester Hand und trank es aus, jedoch erst nach der Frage: »Es wird doch nicht zu viel Wein darunter sein?« Dann rief er John herbei und unterstützt von diesem und seinem Bedienten stand er vom Stuhle ganz auf. Vor demselben stehend, fragte er: welchen Tag im Monat man habe, und auf die Antwort, daß es der 22. sei, erwiederte er: »Also hat der Frühling begonnen, und wir können uns um so eher erholen.« Er setzte sich dann wieder in den Armstuhl und verfiel in einen sanften Schlaf mit angenehmen Träumen; denn er sprach unter anderm: »Seht den schönen weiblichen Kopf – mit schwarzen Locken – in prächtigem [162] Colorit – aus dunklem Hintergrunde.« Überhaupt schien ihn ganz und gar die Kunst zu beschäftigen; denn er äußerte kurz darauf: »Friedrich, gieb mir die dort stehende Mappe mit Zeichnungen!« Da keine Mappe, sondern ein Buch an der bezeichneten Stelle stand, reichte ihm der Bediente dieses, allein der Kranke versetzte darauf: »Nicht das Buch, sondern das Portefeuille!« Der Diener versicherte, es sei kein Portefeuille, sondern nur ein Buch da, und nun ermunterte sich Goethe ganz aus dem Halbschlaf und sagte scherzend: »Nun, so war es ja wohl ein Gespenst.«

Kurz darauf verlangte er kaltes Geflügel zum Frühstück. Man brachte ihm dieses; er nahm etwas davon in den Mund und wünschte zu trinken. Friedrich reichte ihm ein Glas mit Wasser und Wein, von welchem er aber nur wenig trank und die Frage an den Bedienten richtete: »Du hast mir doch keinen Zucker in den Wein gethan, der mir schadet?« Er bestellte darauf, was er zu Mittag essen wollte und überdies für den Sonnabend [den 24. März], an welchem Tage der Hofrath Vogel bei ihm speisen sollte, ein Lieblingsgericht desselben. So war er bis zum letzten Augenblicke liebend für seine Freunde besorgt .... Goethe ließ sich abermals von seinem Copisten John und Friedrich aufrichten, um in sein Arbeitszimmer zu gehen, allein er kam nur bis an den Eingang, wankte und setzte sich bald wieder in den Lehnstuhl.

Als er hier ein Weilchen saß, forderte er ein Manuscript [163] von Kotzebue. Es war keins zu finden und man eröffnete ihm dieses. Er erwiederte darauf: es müsse dann entwendet worden sein. Es fand sich später, daß dieses Verlangen nach dem Kotzebue'schen Manuscripte nicht durch eine bloße Phantasie erzeugt worden sei; er hatte sich nämlich vor wenigen Tagen mit seiner Bearbeitung von Kotzebue's ›Schutzgeist‹ – einem Stücke, das er sehr liebte – beschäftiget und es seinem Enkel Wolf geschenkt. Man fand es später auf dem Schreibtische des letztern liegen.

Sein Geist beschäftigte sich darauf mit seinem vorausgegangenen Freund Schiller. Als er nämlich ein Blatt Papier an dem Boden liegen sah, fragte er: warum man denn Schiller's Briefwechsel hier liegen lasse; man möge denselben doch ja aufheben. Gleich darauf rief er Friedrichen zu: »Macht doch den zweiten Fensterladen in der Stube auch auf, damit mehr Licht hereinkomme!« Dies sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Als nun das Sprechen ihm immer schwerer wurde, und er doch noch Darstellungs- und Mittheilungsdrang fühlte, zeichnete er erst mit gehobener Hand in die Luft, wie er auch in gesunden Tagen zu thun pflegte; dann schrieb er mit dem Zeigefinger der Rechten in die Luft einige Zeilen. Da die Kraft abnahm und der Arm tiefer sank, so schrieb er etwas tiefer und zuletzt – wie es schien, dasselbe – auf dem, seine Beine bedeckenden Oberbette zu wiederholten Malen. [164] Man bemerkte, daß er genau Interpunctionszeichen setzte, und den Anfangsbuchstaben erkannte man deutlich für ein großes W; die übrigen Züge vermochte man nicht zu deuten.

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Da die Finger anfingen blau zu werden, so nahm man ihm den grünen Arbeitsschirm von den Augen und fand, daß sie schon gebrochen waren. Der Athem wurde von Augenblick zu Augenblick schwerer, ohne jedoch zum Röcheln zu werden; der Sterbende drückte sich, ohne das geringste Zeichen des Schmerzes, bequem in die linke Seite des Lehnstuhls, und die Brust, die eine Welt in sich erschuf und trug und hegte, hatte ausgeathmet.


Note:

1 Frau Hase geb. Härtel schreibt am 3. April 1832 an Elwine Härtel: Goethe habe die Hand seiner Schwiegertochter mit den letzten, von ihm gesprochenen Worten verlangt: »Nun, Frauenzimmerchen, gieb mir Dein gutes Pfötchen!« und habe die Hand beim Eintritt des Todes noch festgehalten.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1832. 1832, 22. März. Letzter Tag. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A0FF-B