1772, Mai und Juni.


Mit Johann Christian Kestner

Im Frühjahr kam hier ein gewisser Goethe aus Frankfurt, seiner Hantirung nach Dr. juris, 23 Jahr alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier [in Wetzlar] – das war seines Vaters Absicht – in praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer, Pindar etc. zu studiren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden.

Gleich Anfangs kündigten ihn die hiesigen schönen Geister als einen ihrer Mitbrüder und als Mitarbeiter an der neuen Frankfurter gelehrten Zeitung, beiläufig auch als Philosophen im Publico an, und gaben sich Mühe, mit ihm in Verbindung zu stehen. Da ich unter diese Classe von Leuten nicht gehöre, oder vielmehr im Publico nicht so gänge bin, so lernte ich Goethen erst später und ganz von ohngefähr kennen. Einer der[20] vornehmsten unserer schönen Geister, Legationssecretär Gotter, beredete mich einst nach Garbenheim, einem Dorf, gewöhnlicher Spaziergang, mit ihm zu gehen. Daselbst fand ich ihn im Grase unter einem Baume auf dem Rücken liegen, indem er sich mit einigen Umstehenden, einem Epikuräischen Philosophen (v. Goué, großes Genie), einem stoischen Philosophen (v. Kielmannsegge) und einem Mitteldinge von beiden (Dr. König) unterhielt und ihm recht wohl war. Er hat sich nachher darüber gefreuet, daß ich ihn in einer solchen Stellung kennen gelernt. Es ward von mancherlei, zum Theil interessanten Dingen gesprochen. Für dieses Mal urtheilte ich aber nichts von ihm, als: er ist kein unbeträchtlicher Mensch. Sie wissen, daß ich nicht eilig urtheile. Ich fand schon, daß er Genie hatte und eine ebhafte Einbildungskraft; aber dieses war mir doch noch nicht genug, ihn hochzuschätzen.

Ehe ich weiter gehe, muß ich eine Schilderung von ihm versuchen, da ich ihn nachher genau kennen gelernt habe.

Er hat sehr viel Tatente, ist ein wahres Genie und ein Mensch von Charakter, besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne, wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen.

[21] Er ist in allen seinen Affecten heftig, hat jedoch oft viel Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel, von Vorurtheilen so viel frei handelt er, wie es ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es andern gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt.

Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Äußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte. Aber bei Kindern, bei Frauenzimmern und vielen andern ist er doch wohl angeschrieben. Für das weibliche Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung.

In principiis ist er noch nicht fest und strebt noch erst nach einem gewissen System. Um etwas davon zu sagen, so hält er sehr viel von Rousseau, ist jedoch nicht ein blinder Anbeter von demselben. Er ist nicht, was man orthodox nennt, jedoch nicht aus Stolz oder Caprice oder um etwas vorstellen zu wollen. Er äußert sich auch über gewisse Hauptmaterien gegen wenige, stört andere nicht gern in ihren ruhigen Vorstellungen.

Er haßt den scepticismum, strebt nach Wahrheit und nach Determinirung über gewisse Hauptmaterien, glaubt auch schon über die wichtigsten determinirt zu sein; so viel ich aber gemerkt, ist er es noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten; denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner.

[22] Zuweilen ist er über gewisse Materien ruhig, zu weilen aber nichts weniger, als das.

Vor der christlichen Religion hat er Hochachtung, nicht aber in der Gestalt, wie sie unsere Theologen vorstellen. Er glaubt ein künftiges Leben, einen bessern Zustand. Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben, als von ihrer Demonstration.

Er hat schon viel gethan und viele Kenntnisse, viel Lectüre, aber doch noch mehr gedacht und raisonirt. Aus den schönen Wissenschaften und Künsten hat er sein Hauptwerk gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht den sogenannten Brodwissenschaften.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1772. 1772, Mai und Juni. Mit Johann Christian Kestner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A150-B