1796, 15. September. (?)
Bei Ferdinand Christian Loder
Ich [Garlieb Merkel] fand [bei Loder] eine sehr zahlreiche Versammlung von fast allen Professoren und einigen Studenten beisammen. Im Prunkzimmer stand Goethe mit ernster, stolzer Miene vor dem Spiegeltische, auf beiden Seiten von Kerzen und vorn vom Kronleuchter beleuchtet, prunkend da, und um ihn eine Halbrunde von mehreren Reihen ehrfurchtsvoll Lauschender. Bei dem Gefühl, mit dem ich soeben die ›Xenien‹ gelesen, widerte mich dieses Schauspiel an; ich glaubte den Triumph strafloser Insolenz feiern zu sehen. Loder stellte mich Goethe vor als den Verfasser der ›Letten‹; er nickte herablassend und fuhr fort in seiner Rede. Das verdroß mich; denn ich war mir bewußt, in Rücksicht meiner Zwecke über dem Verfasser der ›Xenien‹ zu stehen ....
Er sprach gerade in einem docirenden Tone über Raphael's Gemälde im Vatican. Den letzten Umstand hatte ich nicht bemerkt [?] und sagte: ›Es wäre viel, wenn die Franzosen sich ihrer nicht bemächtigten.‹ Mit einer wegwerfenden Miene, als hätte ich eine Dummheit gesagt, erwiederte Goethe: »Sie sind ja auf die Mauer gemalt!« – ›Doch nur auf Stuck!‹ antwortete ich, zog mich aus dem bewundernden Halbkreise zurück und habe mich Goethe nie wieder genähert. Mir hatte [104] bei meiner Antwort dunkel vorgeschwebt, es müsse ein Mittel geben, die Stucklagen abzulösen ohne Verletzung der Gemälde, die sie verherrlichen. Welcher Art dies Mittel sein könnte, ahnte ich freilich nicht, doch wenige Monate später erzählten die Zeitungen, daß die Franzosen Wandgemälde abgesägt hätten.
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