1821, 30. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Die Juden bewohnten im vierzehnten Jahrhunderte einen großen Theil der Stadt Eger, namentlich die Juden-, Bruder- und Rosengasse. In der Brudergasse befand sich ihre damals sehr berühmte Synagoge; den Eger'schen Chroniken zufolge soll in Deutschland bloß hier eine hohe Judenschule sich befunden haben. Als nun in dem gedachten Jahrhunderte die Klagen der Egerer Kaufleute über Bedrückung der Juden immer häufiger wurden, und als eines Tages ein Barfüßer Mönch das Leiden Christi mit den glühendsten Farben schilderte und die Juden als die Urheber alles Unheils darstellte, sprang, dadurch gereizt, ein Kriegsmann zum Hochaltare, ergriff dort ein Crucifix und schrie: Wer ein guter Christ ist, der folge mir nach!

Und es folgte ihm aus der Kirche der fanatische Pöbel, außen gesellte sich Gesindel jeglicher Art dazu, die Judenhäuser wurden geplündert, alle Juden wurden bis auf einen einzigen ermordet, der sich in einen Schornstein versteckt haben soll und nach hergestellter Ruhe als Bürger von Eger anerkannt wurde. Die meisten Juden sollen in das schmale Gäßchen zwischen der Juden- und Brudergasse geschleppt und ermordet worden, und aus dem Gäßchen, das noch heute zu Tage die Mordgasse heißt, das Blut wie ein Bach [106] herabgeflossen sein. Der damals regierende römische König Karl IV. ließ hierüber eine Untersuchung eintreten, in deren Folge der Rath von Eger zu einer sehr namhaften Geldbuße verurtheilt ward ..... Unter Kaiser Siegmund wurde die obgedachte Synagoge in eine katholische Kirche verwandelt. Diese nun besichtigte Goethe. Von außen fand man im Gemäuer einen Opferstock mit nicht mehr lesbarer hebräischer Inschrift. Im Innern der Kirche ist an einer in ihrer Mitte stehenden Granitsäule gleichfalls eine hebräische Inschrift angebracht.

Mir lag daran, Goethes Meinung über die Juden zu erfahren. Was ich aber auch vorbringen mochte, er blieb in Betrachtung der alten Inschriften vertieft, und äußerte sich nicht mit Bestimmtheit in Betreff der Juden.

Wir gingen nun in die alte Burg, in welcher die zu einem Bankett geladenen vornehmsten Anhänger Wallensteins niedergemacht worden sind. Goethe blieb vor der ehemaligen Zugbrücke stehen, und betrachtete den sogenannten schwarzen Thurm. Dann sagte er:

»Dieses großartige Werk wollen wir nun auch von Innen betrachten. Das Gestein ist wahrscheinlich vom Kammerberge. Sehen Sie, wie kunstreich die Steine behauen, und um der Witterung zu widerstehen, zusammengesetzt sind. Sie haben beinahe die Form wie einige unsere losen Feldkrystalle bei Elbogen. Wir müssen ihm (dem Thurm) etwas abgewinnen, um Vergleichung [107] mit dem Vorkommen im Kammerberge anstellen zu können.«

Es wurden dann auch einige abgehauene Stücke mitgenommen. Die Schloßkapelle wurde von außen betrachtet, und es wurden an der Westseite Tragsteine bei und zu einem Fenster wahrgenommen, welches zur Hälfte von unten vermauert ist, und offenbar ehemals eine Thüre bildete. Zu dieser Thüre mußte ein auf jenen Tragsteinen ruhender Zugang von dem Schloßgebäude geführt haben, der den hohen Herrschaften diente, für welche allein auch die Emporkirche in der Kapelle bestimmt und eingerichtet gewesen sein mag.

An der Südseite beim Eingange befindet sich ein in Granit gehauenes Kreuz. Gegen Norden erblickt man in der Mauer Höhlungen, welche aus der Zeit der schwedischen und der französischen Belagerung stammen. In das Innere führen einige Stufen hinab. Auf runden massiven Granitsäulen ruht das obere Gewölbe. Dieser untere Theil scheint für das Volk be stimmt gewesen zu sein. An der nördlichen Seite gelangt man über eine schmale Granittreppe in den oberen Theil. Goethe bewunderte die Bauart, die Capitäler der marmornen Säulen, sie waren bei jeder Säule verschieden, nur dürfe man, meinte er, auf die zweite Säule, in welcher eine männliche und weibliche Figur angebracht ist, ein Frauenzimmer nicht aufmerksam machen. Vorzüglich erregte jene gewundene mit Vertiefungen versehene Säule, in dem Raume, wo [108] gegen Osten ein Altar errichtet gewesen sein mag, seine Aufmerksamkeit und Beobachtung. Goethe stieg auch zum Dachboden hinauf, und labte sich an der freien Aussicht in das schöne Egerthal gegen Osten und Westen. Als wir zu den Schloßruinen kamen, erzählte ich Goethe, daß die Erbprinzessin von Oldenburg, geborene Großfürstin von Rußland 1, indem Sie die Stauden mit rothen Beeren betrachtete, ausgerufen habe: Sehen Sie, hier sproßt das Blut der Ermordeten aus.

Goethe äußerte hierauf: »Sie hatte Geist, doch führte dieser Sie in ihren Äußerungen oft zu weit. So hat sie zu Weimar in der Bibliothek, als der Bibliothekar ihr malebarische Dokumente vorzeigte, und auf ihr Verlangen, den Inhalt zu wissen, denselben nicht anzugeben vermochte, weil er die Sprache nicht verstehe, ausgerufen: Ein Bibliothekar und versteht nicht malebarisch! als ob ein Bibliothekar, bemerkte Goethe, alle Sprachen der Welt verstehen sollte. Sie wer den,« sagte er dann, »über Manches, was hier vorging, aus Ihren Archivschätzen Aufschluß geben können.«

Es ist wohl Einiges vorfindig, erwiderte ich, und wenn Eure Excellenz erlauben, so will ich es im Zusammenhange mit Hofrath Försters Geschichte Wallensteins kurz vortragen.

Goethe sprach: »An Ort und Stelle hat die Erzählung einer wichtigen Begebenheit stets mehr Interesse. Lassen Sie hören.«

[109] Nachdem ich meine Erzählung von der Eger'schen Mordnacht beendet hatte, sagte Goethe: »Sie sehen, die Sache gewinnt hier mehr an Interesse. Es wäre zu wünschen, daß Sie für die Fremden einen Wegweiser drucken ließen; denn Wallenstein spielt in der Geschichte eine wichtige Rolle. Hier an Ort und Stelle hat jeder freien Spielraum, sich den Platz zu denken, wo Graf Terzky sich heldenmüthig vertheidigte und fiel. Die noch stehenden Tragsteine lassen auf den ehemaligen Umfang des Saales schließen. Die Marmorsäulen an den Fenstern zeigen etwas Großartiges an, allein Schade, daß für die Erhaltung nicht gesorgt wird.«

An der zweiten Säule werden Eure Excellenz einen freien Adler mit gesenktem Flügel bemerken. Dieser dürfte, fügte ich hinzu, aus der Zeit stammen, als Eger zu den freien Reichsstädten gezählt wurde, wozu sie unter Kaiser Friedrich Barbarossa erhoben worden war, als er das Beilager mit Adelheid, einer Tochter des Markgrafen von Vohburg, hier feierte.

»Natürlich stützt sich das alles, was Sie mir sagten, auf Urkunden?« bemerkte Goethe.

Ich habe das Archiv, sagte ich, und alle auf die Entstehung der Urkunden bezüglichen Correspondenz-Vortragsbücher durchgelesen und es wäre zu weitläufig, Sie in Bezug dieses Gegenstandes (der Ermordung Wallensteins nämlich und seiner vornehmsten Genossen) damit zu ermüden.

[110] Goethe erwiderte: »Es ist an dem genug, was Sie mir sagten, und Jeder würde sich damit begnügen. Solche Geschichtsumstände müssen auch ganz kurz abgefaßt sein.«

Ich darauf: Einiges war mir dennoch sehr von Bedeutung, was ich erst aufgefunden habe. Als erwiesen wird angenommen, daß Wallenstein am 25. Februar 1634 hier erstochen wurde. Nun fand ich in der Correspondenz, dem sogenannten Copialbuche, daß am 26. Februar 1836 an den Gouverneur zu Theusing geschrieben und er ersucht wurde, Victualien jeder Art nach Eger zu senden, weil wegen Anwesenheit Wallensteins und seines Hofstaates hier und in der Umgegend Alles aufgezehrt werde. Ich prüfte genau, ob vielleicht ein Schreibfehler unterlaufen sei; allein es finden sich vor und nach jener Zuschrift Ersuchs schreiben wegen anderer Gegenstände vom 26. Februar 1634 vor, daher konnte kein Irrthum hinsichtlich des 26. Februar vorgefallen sein. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß man die Ermordung Wallensteins verheimlichen wollte, und daß militärischer Seits auf die Ausfertigung jenes Gesuchsschreiben an den Gouveneur zu Theusing Rücksicht genommen worden sei.

Goethe fragte: »Wodurch ist denn sicher gestellt, daß Wallenstein am 25. Februar 1634 erstochen worden? Wenn, wie Sie sagen, in dieser Zuschrift ausdrücklich erwähnt wird, daß er an diesem Tage noch gelebt habe, so konnte er erst am 26. Februar ermordet worden sein.«

[111] [Nachdem hierauf Grüner ausführlich dargelegt, wie er eine städtische Urkunde gefunden, in welcher der 25. Februar als Tag der Ermordung Wallensteins und seiner Offiziere angegeben sei, berichtet er weiter:]

Goethe sagte: »Dieses Actenstück ist auf jeden Fall wichtig; denn es giebt über die Zeit und den Ort der Handlung Aufschluß.«

Indem er nun unter freundlicher Begrüßung nach dem Gasthofe zur Sonne zum Mittagsmahle ging, wo er auf seinem Zimmer Nr. 1 speiste, lud er mich für den Nachmittag zu einem Spaziergang in das Egerthal ein, was ich natürlich mit Vergnügen annahm.

Das Egerthal hatte für Goethe einen besonderen Reiz, er lobte die rein gehaltenen Wege, die Baumpflanzung, die angelegten Alleen. Gleich bei der sogenannten Wenzelsburg gegenüber den alten Schloßruinen verweilte er einige Zeit, die Felsengruppen betrachtend. Ich machte ihn aufmerksam, daß ehemals ein Kastell den Berg krönte, welches durch eine lederne Brücke mit der Burg in Verbindung stand, und daß ich ein Ölgemälde vom Jahre 1495 besitze, auf welchem dieses Kastell und die Stadt in ihrem damaligen Aussehen dargestellt ist.

»Man wird wohl den Standpunkt ausmitteln können, von welchem es aufgenommen ist,« sagte Goethe.

Ich antwortete: Ich besitze zwei derlei Bilder, worauf angemerkt ist, wie Eger von der Westseite und von der Ostseite ausgesehen hat. Die Bilder sollen nach [112] einem Holzschnitte ausgeführt worden sein, der sich an einem Altare in der St. Niklaskirche befunden haben soll. Der Maler ist Stadler angemerkt. Diese Malerfamilie existirt noch und ich besitze von Stadler und seinen Nachkommen einige Ölgemälde.

»Von welchem Genre?« fragte Goethe.

Der alte Stadler, antwortete ich, hat einiges Architektonische geliefert, auch war ihm die Lehre der Perspective nicht fremd. Der Sohn hat sich auf Landschaftmalerei gelegt, und würde Gutes zu leisten im Stande gewesen sein, wenn er nicht um das tägliche Brot hätte malen müssen. Überhaupt wurde die Malerei in Eger zunftmäßig betrieben; es gab Lehrjungen, Gesellen, Meister, welche ihre Heiligenbilder nach den entferntesten Gegenden Deutschlands, besonders in Klöstern und an Wallfahrtsörtern absetzten. Dieser Erwerbszweig ist beinahe gänzlich erloschen. Die Wallfahrtsbilder wurden in Packeten zu 100 auch 1000 Stücken versendet. Darunter befinden sich die sogenannten Winterheiligen; es waren Brustbilder; warum sie aber diesen Namen erhalten haben, vermag ich nicht zu sagen. Die sogenannten gestochenen Bilder gaben einen besonderen Handelszweig. Eure Excellenz werden sich überzeugen, wie mühsam und wie für die Augen angreifend die Arbeit bei diesen gestochenen Bildern ist, die meist von Frauenzimmern verrichtet wurde. Je mühsamer sie aber gestochen waren, desto fleißiger war auch das in der Mitte befindliche Bildchen gemalt. [113] Dieser sonst bedeutende Erwerbs-und Handelszweig ist gänzlich eingegangen, weil derselbe die Coucurrenz mit den durch Maschinen gepreßten Bildern nicht aushalten konnte. Einer meiner Mitschüler bekam häufig von seinem Vater, einem Bilderhändler, den Auftrag, auf mehrere Tausend solcher Bilder die Namen der Heiligen mit goldenen Buchstaben zu schreiben. Um rascher fertig zu werden, bat er mich, ihm zu helfen. Da wir einen so großen Vorrath von Heiligen haben, so gerieth ich nicht in Verlegenheit, welchen Namen ich den Bildchen geben sollte. Wenn der Heilige etwas jünger aussah, schrieb ich gewöhnlich Johannes darunter.

»Sie toller Christ,« sagte Goethe lächelnd, »wie haben Sie sich das Recht Ihrer Geistlichkeit anmaßen können?«

Ich dachte, war meine Antwort, daß es auf die Namen nicht ankomme, und daß die Heiligen bei Gott einen gleichen Wirkungskreis haben; nur Schade, daß Deutschland so wenig im Himmel vertreten ist, denn die Italiener sollen dort die meisten Plätze eingenommen haben.

»Es sind auch in Italien die meisten Geistlichen,« sagte Goethe, »und diese Herren glauben auf einer Stufe zum Himmel höher zu stehen. Sie haben keinen Begriff, mein Lieber, wie die Kinder dort schon für den Priesterstand erzogen werden; denn dort können Sie Kinder auf der Gasse als Dominikaner, Franziskaner, Jesuiten, Nonnen angekleidet sehen.«

[114] Es mögen aber, sagte ich, dennoch nicht die besten Sitten in Rom herrschen; denn wenn ich dem Boccaccio trauen darf, so soll sich ein Jude deßhalb haben taufen lassen, weil, wie er behauptete, die christliche Religion göttlichen Ursprungs sein müsse, sonst hätte sie wegen der schlechten Sitten in Rom längst gänzlich verdrängt und ausgetilgt worden sein müssen. Doch Eure Excellenz können auch hierüber den besten Aufschluß geben.

Goethe erwiederte: »Ich kann freilich nicht billigen, daß die Geistlichkeit in Rom sich so sehr mit weltlichen Dingen befaßt, aber um dergleichen habe ich mich nicht gekümmert, sondern bin mehr meiner Leidenschaft, Kunstgegenstände dort genauer zu betrachten und mich auszubilden, nachgegangen, wobei ich auch einen tüchtigen Künstler und Kenner an der Seite hatte. Bei jedem Tritte in Rom stößt man auf Gegenstände, die zu ernsten und angenehmen Betrachtungen Anlaß geben. Wir haben daher von der Geistlichkeit und den Cardinälen nur diejenigen besucht, in deren Palästen Kunstgegenstände zu sehen waren. Was nun Ihre Malerzunft betrifft, so würde zwar die Kunst herabgewürdigt, auf der andern Seite hatte es doch wieder das Gute, daß die Malerei so viele Theilnehmer fand, und unter diesen mancher Geniale sich aus dem gewöhnlich Schlechten erhob und Gutes lieferte.«


Note:

1 Als Königin von Würtemberg von der Erde geschieden.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1821. 1821, 30. August. Mit Joseph Sebastian Grüner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A1C8-E