1794, 31. October.


Über Voßens Iliasübersetzung

Erster Gesang.

In einem alle Freitage sich versammelnden Abendzirkel für den Winter zwischen 1794 und 1795 wurde beschlossen, jedesmal einen Gesang der Ilias nach Voß vorzulesen und sich dann die dabei von selbst kommenden Bemerkungen mitzutheilen. Goethe ist Vorleser .....

Die härtesten Stellen wurden durch Goethes treffliche Declamation und richtig wechselndes Andante und Adagio außerordentlich sanft und milde. Es ist unleugbar, daß Voß nur für's Ohr und den lebendigen succesiven Eindruck, nicht für's Auge und zergliedernden Überblick des Stils gearbeitet hat.

Fragen. 1) That Voß recht daran, das anstößige kynôpa V. 159 und boôpis V. 551, jenes durch »Ehrvergessener!« dieses durch »hoheitblickende« zu mildern und das ächthomerische 588 theinomenên nur durch das sanftere »wenn er Dich straft« zu übersetzen? Antwort. Keineswegs! In allen drei Fällen wird das stark Sinnliche durch abstractere Vorstellungen entnervt. Auch ist das »hoheitblickende« nicht einmal im Sinne Homer's, da es bloß die auch in den Kunstwerken charakteristischen großen Augen der Juno bezeichnet. Sollte Voß nicht bloß das »Farrenäugige«[161] seiner Vorgänger haben vermeiden wollen, und, weil er fühlte, er könne nicht Besseres geben, lieber eine unbefriedigende Abstraction gesetzt haben?

2) Ist das ambrosiai kaitai eperrhôsanto [V. 529] wohl ganz richtig von Voß übersetzt: »sie walleten vorwärts?« Voß dachte sich das Haar im Augenblicke des Zunickens. Aber so dachte sie sich wenigstens Phidias nicht; da ist diese gewaltsame Bewegung, wenn sie überhaupt stattfand, schon vorbei, und die Locken zittern nur noch den Scheitel entlang.

In einigen Stellen ist der Nachdruck des Originals merklich geschwächt, als V. 132 mê klepte noô: »Sinne nicht auf Trug!« Nach dem Original war dies schon geschehen, und jetzt suchte er nun wirklich Ausflüchte. Das cholon katapeptein [V. 81] ist auch zu schwach übersetzt und »Galle« wollte Goethe der verschiedenen Nebenbegriffe wegen durchaus nicht gefallen. So tadelte Goethe auch das mehrmals wiederkommende »traun«!

V. 151 ist bei Homer ein distributiver Satz: ê hodon elthemenai, e andrasin iphy machesthai. In Voßens Übersetzung: »Einen Gang dir zu gehn und kühn mit dem Feinde zu kämpfen« – fließt dies in einen einzigen Begriff zusammen. Voß wollte das gehäßige »oder« vermeiden.

Über die Rohheit der ältesten Mythen, z.B. die Vorstellung vom Briareus V. 400 ff. Goethe verglich sie mit dem Gradlinigten und Steifen in der Kunst. – Unverdauliche Abgeschmacktheit im Göttersystem Homer's. Seine Menschen handeln viel edler, als seine Götter.

[162]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1794. 1794, 31. October. Über Voßens Iliasübersetzung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A1D2-5