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Wie Goethe... alles An- und Eingelernte nicht liebte, so behauptete er auch, alle Philosophie müsse geliebt und gelebt werden, wenn sie für das Leben Bedeutsamkeit gewinnen wolle. »Lebt man denn aber überhaupt noch in diesem Zeitalter?« fügte er hinzu, »der Stoiker, der Platoniker, der Epikuräer, jeder muß auf seine Weise mit der Welt fertig werden; das ist ja eben die Aufgabe des Lebens, die keinem, zu welcher Schule er sich auch zähle, erlassen wird. Die Philosophen können uns ihrerseits nichts, als Lebensformen darbieten. Wie diese nun für uns passen, ob wir, unsrer Natur oder unsern Anlagen nach, ihnen den erforderlichen Gehalt zu geben imstande sind, das ist unsre Sache. Wir müssen uns prüfen und alles, was wir von Außen in uns hereinnehmen, wie Nahrungsmittel auf das Sorgsamste untersuchen; sonst gehen entweder wir an der Philosophie oder die Philosophie geht an uns zugrunde.

Die strenge Mäßigkeit, z.B. Kant's, forderte eine Philosophie, die diesen seinen angebornen Neigungen [344] gemäß war. Leset sein Leben, und Ihr werdet bald finden, wie artig er seinem Stoicismus, der eigentlich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen einen schneidenden Gegensatz bildete, die Schärfe nahm, ihn zurechtlegte und mit der Welt ins Gleichgewicht setzte. Jedes Individuum hat vermittelst seiner Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht aufheben. Hier oder nirgends wird wohl der Ursprung aller Philosophie zu suchen sein. Zeno und die Stoiker waren längst in Rom vorhanden, eh' ihre Schriften dahin kamen. Dieselbe rauhe Denkart der Römer, die ihnen zu großen Helden und Waffenthaten den Weg bahnte und sie allen Schmerz, jede Aufopferung verachten lehrte, mußte auch Grundsätzen, die gleichverwandte Forderungen an die Natur des Menschen aufstellten, bei ihnen ein geneigtes und williges Gehör verschaffen. Es gelingt jedem Systeme, sogar dem Cynismus, sobald nur der rechte Held darin auftritt, mit der Welt fertig zu werden. Nur das Angelernte der menschlichen Natur scheitert meist am Widerspruche; das ihr Angeborne weiß sich überall Eingang zu verschaffen und besiegt sogar nicht selten mit dem glücklichsten Erfolge seinen Gegensatz. Es ist sonach kein Wunder, daß die zarte Natur von Wieland sich der aristippischen Philosophie zuneigt, sowie auf der an dern Seite seine so entschiedene Abneigung gegen Diogenes und allen Cyinismus aus der nämlichen Ursache sich sehr befriedigend erklären läßt. Ein Sinn, mit dem [345] die Zierlichkeit aller Formen, wie bei Wieland, geboren ist, kann unmöglich an einer beständigen Verletzung derselben als System Wohlgefallen finden. Erst müssen wir im Einklange mit uns selbst sein, ehe wir Disharmonien, die von außen auf uns zudringen, wo nicht zu heben, doch wenigstens einigermaßen auszugleichen imstande sind. Ich behaupte, daß sogar Eklektiker in der Philosophie geboren werden, und wo der Eklekticismus aus der innern Natur des Menschen hervorgeht, ist er ebenfalls gut und ich werde ihm nie einen Vorwurf machen. Wie oft giebt es Menschen, die ihren angebornen Neigungen nach halb Stoiker und halb Epikuräer sind! Es wird mich daher auch keineswegs befremden, wenn diese die Grundsätze beider Systeme in sich aufnehmen, ja sie miteinander möglichst zu vereinigen suchen. Etwas anderes ist diejenige Geistlosigkeit, die aus Mangel an aller eigenen innern Bestimmung wie Dohlen, alles zu Neste trägt, was ihr von irgend einer Seite zufällig dargeboten wird, und sich eben dadurch als ein ursprünglich Todtes außer aller Beziehung mit einem lebensvollen Ganzen setzt. Alle diese Philosophien taugen in der Welt nichts; denn weil sie aus keinen Resultaten hervorgehen, so führen sie auch zu keinem Resultate.

Von der Popularphilosophie bin ich ebenso wenig ein Liebhaber. Es giebt ein Mysterium so gut in der Philosophie wie in der Religion. Damit soll man das Volk billig verschonen, am wenigsten aber dasselbe[346] in Untersuchung solcher Stoffe gleichsam mit Gewalt hereinziehen. Epikur sagt irgendwo: das ist recht, eben weil sich das Volk daran ärgert. Noch läßt sich das Ende von jenen unerfreulichen Geistesverirrungen schwerlich ab- und voraussehen, die seit der Reformation dadurch bei uns entstanden, daß man die Mysterien derselben dem Volke preisgab und sie ebendadurch der Spitzfindigkeit aller einseitigen Verstandesurtheile bloßstellte. Das Maß des gemeinen Menschenverstandes ist wahrlich nicht so groß, daß man ihm eine solche ungeheure Aufgabe zumuthen könnte, es zum Schiedsrichter in solchen Dingen zu erwählen. Die Mysterien, besonders die Dogmen der christlichen Religion, eignen sich zu Gegenständen der tiefsten Philosophie, und nur eine positive Einkleidung ist es, die sie von diesen unterscheidet. Deshalb wird auch häufig genug, je nachdem man seinen Standpunkt nimmt, die Theologie eine verirrte Metaphysik, oder Metaphysik eine verirrte platonische Theologie genannt. Beide aber stehen zu hoch, als daß der Verstand in seiner gewöhnlichen Sphäre ihr Kleinod zu erlangen sich schmeicheln dürfte. Die Aufklärung desselben beschränkt sich zuvörderst auf einen sehr engen praktischen Wirkungskreis. Das Volk aber begnügt sich meist damit, einigen recht lauten Vorsprechern das, was es von ihnen gehört hat, ebenso laut wieder nachzusprechen. Dadurch werden dann freilich die seltsamsten Erscheinungen herbeigeführt, und die Anmaßungen nehmen kein Ende. Ein aufgeklärter, [347] ziemlich roher Mensch verspottet oft in seiner Seichtigkeit einen Gegenstand, vor dem sich ein Jacobi, ein Kant, die man billig zu den ersten Zierden der Nation rechnet, mit Ehrfurcht verneigen würden. Die Resultate der Philosophie, der Politik und der Religion sollen billig dem Volke zugute kommen, das Volk selbst aber soll man weder zu Philosophen, noch zu Priestern, noch zu Politikern erheben wollen. Es taugt nichts! Gewiß! suchte man, was geliebt, gelebt und gelehrt werden soll, besser im Protestantismus auseinander zu halten, legte man sich über die Mysterien ein unverbrüchliches, ehrerbietiges Stillschweigen auf, ohne die Dogmen mit verdrießlicher Anmaßung, nach dieser oder jener Linie verkünstelt, irgend jemandem widerwillen aufzunöthigen, oder sie wohl gar durch unzeitigen Spott, oder vorwitziges Ableugnen bei der Menge zu entehren und in Gefahr zu bringen, so wollte ich selbst der erste sein, der die Kirche meiner Religionsverwandten mit ehrlichem Herzen besuchte und sich dem allgemeinen praktischen Bekenntniß eines Glaubens, der sich unmittelbar an das Thätige knüpfte, mit vergnüglicher Erbauung unterordnete.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. Zeitlich ungewiß. 915. * : Erzählungen von Johann Daniel Falk. f.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A1D3-3