1819, 16. (?) März.


Mit Julie von Egloffstein u.a.

Nach einem Concert, das unsere Erwartungen nicht hinlänglich befriedigte, fuhren wir zu Goethens. Der alte Herr empfing uns ganz besonders zärtlich und entwickelte, als wir bald darauf mit ihm am traulichen Eßtisch saßen, seine ganze Liebenswürdigkeit in Scherz und Ernst auf's Allerreizendste. O, wie hinreißend, wie unwiderstehlich ist der Mann, wenn er in heitrer [2] Gemüthlichkeit sich zwischen seinen Kindern und Freunden bewegt – bald das Größte und Höchste in's Gespräch verflechtend, bald sich scherzhaft wieder zu dem Kleinsten und Unbedeutendsten herabneigend und jedem einen neuen Werth, eine neue Bedeutung verleihend.

Anfangs drehte sich die Unterhaltung um die Begebenheiten des Tags – es wurden einige Worte über das Concert gesagt – dann erzählte Goethe, welchen herrlichen Schatz alter Brochuren aus dem sechzehnten Jahrhundert er in Jena aufgefunden hätte, die von der Bluthochzeit und mehreren interessanten Begebenheiten aus früherer Zeit handelten und mit den allerwunderlichsten Holzschnitten verziert seien und damals statt Zeitungen gedient hätten. Natürlich drang sich mir hier der Wunsch auf, zu erfahren, seit wann eigentlich die Zeitungen eingeführt und eine bestimmte Ordnung und Form darin beobachtet würde, und wie es die Menschen vordem gehalten hätten, und Goethe befriedigte ihn auf alle Weise. Er erzählte mir nämlich, wie die Kaufleute mit ihren Speculationen stets die politischen Ereignisse als Hebel oder Hemmketten betrachtet und sich deshalb untereinander in Briefen Nachricht darüber ertheilt hätten. Diese Briefe seien zu weiterer Mittheilung späterhin gedruckt worden, aber lange Zeit sei hingegangen, ehe man auf den Einfall gekommen wäre, eine fortlaufende Reihe von Tagesblättern einzusetzen und damit auch ohne besondere Erscheinungen oder Erlebnisse in der politischen Welt fortzufahren. – Dieser [3] Gegenstand leitete uns dann weiter zurück in die entferntesten Zeiten der erwachenden Cultur zu der Erfindung der Schrift überhaupt, und ich warf Goethe die Frage auf, wie Homer seine Werke eigentlich geschrieben habe.

»Diese Frage, mein liebes Engelchen!« sagte er, »kann nur durch weitläufige Erzählungen beantwortet, oder vielmehr verneint werden.« Nun setzte er uns auseinander, daß Homer aller Vermuthung nach gar nicht existirt und folglich gar nicht geschrieben habe. Die Welt sei geneigt in allem die Persönlichkeit zu lieben, und deshalb schreibe sie einem einzigen so große Gabe zu, wahrscheinlich aber hätten mehrere aufeinanderfolgende Dichter jene Gesänge zustande gebracht – und durch mündliche Überlieferung weiter befördert, bis dann endlich einer auf den gescheidten Gedanken gekommen sei, sie aneinander zu reihen und zu re(digiren), dem denn auch der größte Ruhm gebühre.

Während diesem Gespräch, das eigentlich mehr zwischen Goethe und mir stattfand, hatten die Übrigen die heitersten Witze untereinander über den jungen [Franz] Nicolovius gemacht, und Goethe nahm sich seines Großneffens endlich mit Lebhaftigkeit an, mich auffordernd, ihn jenen beiden Damen, die sich um ihn stritten – Linchen [Gräfin Egloffstein] und Ottilien nämlich – abspenstig zu machen; er selbst gab mir darauf die besten Anschläge an die Hand, wie ich die [4] Aufmerksamkeit dieses höchst originellen und schweigsamen jungen Menschen aus mich lenken könnte, und forderte zuletzt seinen Sohn auf, sich mit mir zu verbünden, indem ja dem Mephistopheles nichts unmöglich sei, was List und Bosheit verlange. Linchen meinte, ich könne es immerhin versuchen; denn es würde mir nichts helfen, indem noch keiner sie und mich zugleich geliebt habe, als einmal ein Narr. »Ei, Kinder, seht!« – rief Goethe, – »auch ich liebe Euch beide zugleich, und so könnt Ihr Euch denn rühmen, daß Euch nicht nur ein Narr, sondern auch ein gescheidter Mann auf gleiche Weise geliebt.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1819. 1819, 16. (?) März. Mit Julie von Egloffstein u.a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A229-E