a.

Er [Goethe] redete mich auf dem Balle von selbst sehr freundschaftlich an, fragte in der Geschwindigkeit nach den Örtern, die ich passirt hätte; ich nannte Teplitz und Sie [Rahel Levin] und sagte ihm, wiewohl ganz flüchtig, daß ich Sie schon sehr lange kennte und Ihretwegen nach Teplitz gereist wäre. Nicht um zu urtheilen, sondern um unwillkürlich mit seinen Empfindungen auszubrechen, sagte er: »Sie haben sehr recht gethan. O! die Levin hat sehr viel gedacht, hat Empfindungen und Verstand; es ist was Seltenes, das muß ich sagen – wo find't man das? Wir haben auch so vertraut zusammen gelebt, wir waren beständig zusammen. Ja, das ist gewiß! Nun, wenn Sie sie lange nicht gesehen hatten, ja freilich!« u.s.w. Und dabei lauter freundliche Gesichter, und beständig entourirt, im Geschrei sagte er mir das immer weiter. Wir gingen auseinander ..... Während des dicksten Tanzes war Goethe eine Zeitlang frei ..... Ich ging zu ihm hin und redete ihn mit den Worten an: »Sie wer den wohl noch einige Zeit hier [in Jena] bleiben, Herr Geheimerath?« G. »Länger, als ich dachte – o, setzen[172] Sie sich! – So lange es hübsch ist. Ich habe so viele Freunde hier, man macht so hübsche Bekanntschaften, und so weiß ich nicht, wann ich abgehe; aber dann komme ich wieder nach Jena und arbeite.« Darauf kamen wir in ein Gespräch über seine anatomischen Arbeiten, von denen er sagte, er hätte sie schon zehnmal zum Druck fertig gehabt und ebenso oft unterdrückt; es wäre unendlich schwer auszuführen. »Wir befinden uns in einem Chaos von Kenntnissen und keiner ordnet es; die Masse liegt da und man schüttet zu, aber ich möchte es machen, daß man wie mit Einem Griff hineingriffe und alles klar würde. Es ist nun nicht mein Fach; ich treibe es aus Begierde, aus Leidenschaft; ich will gerne zeigen, daß alles auch hier einfach ist, wie in den Pflanzen, daß aus Knochen alles deducirt werden kann, aber noch sehe ich das Ende nicht; vor jedem neuen Buch erschrecke ich; denn es ist den Versuchen nicht zu trauen. Achten muß man darauf, und in einem Menschenleben macht man nicht alle nach. Es ist überhaupt mein Grundsatz, den umgekehrten Weg einzuschlagen. Man hat bisher so viel Hypothesen in der Naturlehre gemacht: das ist falsch; denn für meine Meinung finde ich immer Gründe in dem Unendlichen der Natur. Die Kräfte sind so mannigfaltig, daß ich immer einige derselben unter Einen Gesichtspunkt bringen kann, wenn er auch unrichtig ist; hier muß man viel Versuche machen, um nicht zu irren. In der Naturgeschichte hingegen hat man immer [173] classificirt und neben einander gestellt ohne zu raisonniren; hier kann man Hypothesen wagen; denn die Fehler sind leicht zu finden: jeder Knochen, jede Pflanze, die mir in die Hände fällt, widerlegt mich.«

Über diese Materie haben wir noch lange gesprochen und nun kommt Ihr Triumph, meine liebe Rahel! eine Sache, die Sie kaum glauben werden, die ich so unglücklich bin, Ihnen schreiben zu müssen. Hören Sie! Ich sprach mit ihm über den »Literarischen Sansculottismus« (»Horen«, fünftes Stück) und sagte ihm geradezu: »Herr Geheimerath, Sie werden es vielleicht für Arroganz, für Unbescheidenheit halten, aber es ist wirklich keins von beiden; ich muß Ihnen sagen, daß mir Ihr ›Literarischer Sansculottismus‹ eine große Freude war. Wenn man selbst jung ist, so kann man nichts lieber hören, als wenn ein Mann wie Sie mit einer solchen Deutlichkeit an seine Jugend denkt und so warm sich für die jetzigen größeren Fortschritte interessirt,« u.s.w. Goethe. »Unbescheidenheit? warum? Es ist mir sehr lieb, daß Sie mir das sagen, sehr lieb. Sagen Sie, warum soll man dabei still sein? Ich habe dem ganzen Gang so mit zugesehen; ich, und wenn ich auch nicht gewirkt habe, so glaube ich doch, daß ich nicht ohne Wirkung gewesen bin, und nun kommt einer und sagt: es ist nichts, und wir haben nichts! Daß ich so immer den Gang mit weiter mache und mich daran vergnüge, das muß ich ja thun; das, was mir entgegenwächst, entgegen kommt, was aufsproßt,[174] – anderer Leute Kinder oder meine, hier einerlei, – das ist ja das Leben. Was erinnert mich sonst, daß ich bin und wie ich bin? Ich sehe ja, daß man weiter kommt, und man will mich überreden, daß man zurückgehe?« u.s.w. Wir haben über eine Stunde miteinander gesprochen, ich nicht weniger als er. Diese Hauptsachen habe ich Ihnen schreiben können. Was sonst noch passirt ist, ist größtentheils unbedeutend und soll der Inhalt künftiger Briefe sein.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1795. 1795, 11. (?) August.: Mit David Veit. a.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A250-3