1815, 18. April.


Mit Friedrich von Müller
und Heinrich Meyer

Ich begab mich heute zu Goethe, um ihm die mir anvertrauten Zeichnungen der Prinzeß Julie [Gräfin Julie von Egloffstein] vorzulegen. Dort traf ich auch den Hofrath Meyer. Zunächst legte ich die Zeichnungen vor, zu welchen der Zauberring [Ritterroman von Fouqué] die Sujets geliefert hatte. Nach einem sorgsamen Überblick äußerte sich Goethe: »Nun, das holde Kind soll höchlich gelobt sein. So viel reine Intention, so liebliche Anordnung, so zierlich nette Ausführung und so viel Freiheit in der Bewegung verrathen ein herrliches Naturell, das auf dem Wege der vollständigsten Ausbildung schon weit genug vorgeschritten ist.« Ja ja, fügte Meyer hinzu, es ist gar erfreulich, ein so hübsches Talent sich aus sich selbst heraus entwickeln zu sehen. Nur Studium der Perspective wäre noch zu wünschen und einige theoretische Aufklärung über Beleuchtung und Schatten. »Das ist's,« sprach Goethe, »aber kein Buch und selbst keine Intuition der Meisterwerke kann diesem Mangel abhelfen; es wäre erforderlich sich mündlich zu verständigen, zwei, drei ihr klar entwickelte Grundbegriffe würden Wunder thun und ihr schnell das Verständniß öffnen, worauf es noch ankommt, um auch die letzte Stufe der künstlerischen Ausbildung noch erklimmen zu können. Doch solche Offenbarung muß der Zufall herbeiführen, er ist ja immer [173] schönen Naturen günstig.«Meyer: Und so muß man auch bei einem so sinnigen Gemüthe nicht viel hofmeistern wollen. Ich möchte wohl sagen, der beste Rath für sie sei, sich ihrer innern Eingebung recht frei zu überlassen. Kenntniß der Anatomie und ganz probefeste Zeichnung von ihr zu fordern, wäre thöricht; aber wundern mag man sich wohl, daß dem ohngeachtet die Proportionen ihrer Figuren und Gruppen auch dem schärfern Blick so wenig Anstoß geben. Goethe: Sehen Sie nur, wie hübsch Bertha und Otto am Bache componirt sind. Dieß zierlich reine Mädchengesicht, diese allerliebste Wendung des Köpfchens und Oberleibs kann nur aus einer reinen Mädchenphantasie entsprungen sein. Wie weit ist sie nicht vorgerückt, seit wir zum letzten Male Proben ihres Talentes sahen. Die Stufe der Flaxmannischen Umrisse hat sie schon glücklich überschritten, und es richtig geahndet, wie jene bedeutsam leeren Räume auszuschütten wären. Sie darf zu jener niedern Stufe nicht wieder zurückkehren wollen und sie kann es auch nicht, so wenig als ein Kind wieder in Mutterleib zurück kann. Auf dem Bilde, wo dem alten Ritter von fern das holde Paar zueilt, hat sie zwar noch à la Flaxmann die mittleren Räume ganz leer gelassen, aber man sieht deutlich, daß sie nur verschmähte, etwas minder Bedeutsames hinzuzufügen und wohl richtig ahnen mochte, was eigentlich noch hingehöre. Es ist etwas so anmuthig Jungfräuliches in diesen Zeichnungen, so viel Einfachheit und Verachtung [174] überflüssiger Zierrath. Gerade so viel örtliche Unterlage als nöthig war zu individualisiren. Wie sauber sind z.B. das gothische Fenster und die Blätterranken gezeichnet, wo Bertha sich herausbiegt. Ich kenne den Zauberring nicht und werde ihn niemals lesen, denn das ist mir verboten von meinem Obern; aber dieses Bild hat Zauberreiz genug für mich, um es auch ganz isolirt zu verstehen und zu lieben. Sehen Sie den Brief hier unten, wie artig arglos angebracht, und das spähende Mädchenauge verräth doch hinlänglich, was sie so sehnend suche. Welch kräftigen Druckes hat der Bleistift der Zeichnerin dem Auge des Otto gegeben, wie er vor Frau Minnetrost kniet; ei ei, das schöne Kind muß doch auch wohl verliebte Augen schon in anmuthiger Nähe gesehen haben, weil sie dem Jüngling hier so glühende Liebesblicke einhauchen konnte. Wie rein ist die Seele, die sich auf Bertha's betendem Antlitz spiegelt! Aber der Türke hinter ihr ist auch schon ein ganz zahmer Türke geworden.

Ich holte nun auch die mir anvertrauten Landschaftszeichnungen herbei, und es ist schwer auzusprechen, wie viel heitern Genuß sie den beiden Kunstfreunden gewährten. Vorzüglich rühmten sie das ruhige tiefe Gemüth und die innigste Anschauung des äußerlich Bedeutenden, sodann die freie Behandlung schwieriger Gegenstände und die Liebe und reinliche Sorgfalt, mit der auch das kleinste Detail behandelt sei. Goethe: Hier, dieß kleine Blatt, so scheinbar unvollendet, so [175] herausgehoben, wie aus einem größern Ganzen; gleichsam ein Anklang, Probestückchen, es ist fürwahr mir das Erste und Liebste. Macht es denn wohl Friedrich je besser? Meyer: Und noch dazu lange nicht so anmuthig. Goethe: Seht nur doch diesen Faltenwurf an der sitzenden, lesenden weiblichen Figur, diese anmuthige Behandlung des Untertheils; sollte man nicht glauben, unser holdes Kind habe den Andreas del Sarto studirt? Wahrlich! wenn hier nicht das glücklichste Naturell sich ankündet, so giebt es niemals eins. Und wie großartig sind diese Felsenpartien behandelt, jene Linde, wie durchsichtig und üppig! In dieser Müllerin mit dem Kinde ist die individuellste Natur erlauscht und hier der isolirten ländlichen Hütte, die uns so stumm beredt in die freundlich kleine Thür einzutreten ladet, fehlt nur noch rechts etwas, mehr Freiheit des Blicks, etwas mehr Keckheit in der Begrenzung, um ganz vortrefflich zu sein. Sprecht nur, alter Herr (zu Meyer), Ihr hocherleuchteter Kritiker, wo ist denn sonst noch etwas zu tadeln? Was möchte man denn im geringsten anders wünschen. Meyer: Es ist eben alles recht, heiter und lieblich gedacht, und reinlich und zart ausgeführt, wie es einem wohlthun mag, es anzuschauen. Man sieht, ihr Instinct leitet sie ganz richtig und so soll sie ihm nur immer folgen und sich mehr und mehr an Mannichfaltigem versuchen, da sie des Einzelnen schon so Herrin ist. Goethe: Hat denn Scherer jemals so artige Figuren, so runde nette Compositionen [176] gemacht? Was an Rambergen Gutes ist, das sieht man in ihren Zeichnungen wohl hier und da durchblitzen, aber von seinen Fehlern finde ich nichts. Nun mit einem Worte schreiben Sie dem schönen lieben Kinde, es solle gar hoch gelobt sein, und es sei nur dies bitter und streng an ihr zu tadeln, daß sie uns so fern sei und so fern bleiben zu wollen Miene mache.

Aber sogleich gebe ich die freundlichen Zeichnungen nicht zurück, Ihr müßt sie schon einige Tage unter meinem Dache lassen, daß ich sie sehe und wieder sehe und mich recht heimlich ihrer freue.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 18. April. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A251-1