1827, 8. (?) September.


Mit Wilhelm Zahn

Es war am 7. September 1827 und ich noch ein junger unbekannter Mann, als ich auf der Reise nach Berlin durch Weimar kam. Mein ganzes Denken drehte sich um Goethe, und ich beschloß, dem Gefeierten meine Aufwartung zu machen. Aber es war nicht ganz leicht, zu ihm zu gelangen. Tag für Tag von Besuchen [199] bestürmt, hielt er sich etwas abgeschlossen. Der Maler und Dichter August Kopisch, der Entdecker der blauen Grotte zu Capri, erzählte mir, wie er dem Dichterfürsten einen langen Brief geschrieben und darin um eine Audienz gebeten, aber keine Antwort erhalten habe. Ein anderer meiner Bekannten – mir fällt der Name nicht gleich bei – hatte sich bis ins Haus gewagt und war dann schüchtern auf den Hof geschlichen, um nach einem dienstbaren Geiste zu spähen; aber er traf nur zwei Knaben, die Enkel des Dichters, die wild umherrannten und einen großen Lärm trieben. Da öffnete sich plötzlich ein Fenster und der Ersehnte lehnte heraus. Mit blitzenden Augen und einer Löwenstimme, rief er herunter: »Wollt ihr Lümmel [!?] endlich Ruhe halten!« Schrie's und warf klirrend das Fenster zu. Die Knaben wurden still, und mein Freund rannte erschreckt davon. – Diese unglücklichen Geschichtchen konnten mich nicht abschrecken und ich machte mich getrost auf den Weg, obwohl ich weder einen Namen noch die geringste Empfehlung aufzuweisen hatte. .... Auf dem Flure trat mir ein Diener entgegen, dem ich meinen Namen nannte: »Zahn, Maler und Architekt.« »Maler und Architekt,« wiederholte mechanisch der Diener, indem er mich zweifelhaft musterte. »Sagen Sie Sr. Excellenz: Aus Italien kommend.« »Aus Italien kommend,« wiederholte jener und entfernte sich, worauf er alsbald zurückkehrte und mich bat, ihm zu folgen .... Wir stiegen eine schöne breite Treppe hinan; ... mein [200] Führer öffnete, ließ mich eintreten und ich befand mich in einem stattlichen Empfangzimmer. ....

Nach wenigen Augenblicken trat Goethe ein. Es ist eine tausendmal gebrauchte Phrase, daß der Dichter an Erscheinung und Wesen dem griechischen Götterkönig geglichen, aber niemand konnte leugnen, daß der Mann, der jetzt vor mir stand, seines Gleichen suchte. Das Alter ließ die hohe, kräftige, Ehrfurcht gebietende Gestalt nur noch herrlicher erscheinen. Unter der gewaltigen Stirn blitzten zwei große braune Augen, und das bronzefarbige Antlitz trug den Stempel der Hoheit und Genialität. Er hieß mich ihm gegenüber Platz nehmen und fragte mit seiner ausdrucksvollen, volltönenden Stimme, die jedoch zuweilen den Frankfurter Dialekt anklingen ließ: »Waren also in Italien?« »Drei Jahre, Excellenz.« »Haben vielleicht auch die unterirdischen Stätten bei Neapel besucht?« »Das war der eigentliche Zweck meiner Reise. Ich hatte mich in einem antiken Hause zu Pompeji behaglich eingerichtet, und während zweier Sommer geschahen alle Ausgrabungen unter meinen Augen.« »Freut mich! Höre das gern« – sagte Goethe, der eine gedrungene Redeweise liebte und gern die Pronomina wegließ. Er rückte mit seinem Stuhle mir näher und fuhr dann lebhaft fort: »Habe den Akademien zu Wien und Berlin mehrere Male gerathen, junge Künstler zum Studium der antiken Malereien nach jenen unterirdischen Herrlichkeiten zu schicken; um so schöner, wenn [201] Sie das auf eigene Hand gethan. Ja, ja! das Antike muß jedem Künstler das Vorbild bleiben. – Doch vergessen wir das Beste nicht! Haben wohl einige Zeichnungen in Ihrem Reisekoffer?« »Ich habe die schönsten der antiken Wandgemälde meist gleich nach der Entdeckung durchgezeichnet und farbig nachzubilden gesucht. Wünschen Excellenz vielleicht einige davon zu sehen?« »O gewiß, gewiß!« fiel Goethe ein; »mit freudigem Danke. – Kommen Sie nur zum Essen wieder. Speise gegen zwei Uhr. Werden noch einige Kunstfreunde finden. Sehne mich ordentlich nach Ihren Bildern. Auf Wiedersehen, mein junger Freund!« Und er bot mir seine Hand, während er die meinige freundlich drückte.

Als ich mich zur bestimmten Stunde wieder einstellte, durchschritt ich eine Reihe von Zimmern, die alle mit demselben Kunstgeschmack ausgestattet waren, und trat in den Speisesalon, wo ich Goethe und seine anderen Gäste schon anwesend fand. Da war der Oberbaudirector Coudray, der Kanzler von Müller und der Leibarzt Vogel ..... Ferner sah ich den Professor Riemer, Eckermann und Hofrath Meyer. Alle Gäste und Goethe selber waren im Frack. .... Ich saß zwischen Goethe und Fräulein Ulrike v. Pogwisch, einem Liebling des Dichters; denn er richtete häufig das Wort an sie und nahm ihre Gegenreden mit offenbarem Wohlgefallen auf. Uns gegenüber saß Frau Ottilie, die Schwiegertochter des Dichters und die [202] Schwester von Ulrike. Ich fand die Speisen äußerst wohlschmeckend und den Wein mindestens ebenso gut. Vor jedem Gaste stand eine Flasche Roth-oder Weißwein. Ich wollte mir einen klaren Kopf für den Nachtisch erhalten, weshalb ich Wasser unter meinen Wein goß. Goethe bemerkte es und äußerte tadelnd: »Wo haben Sie denn diese üble Sitte gelernt?« Die Unterhaltung war eine allgemeine, lebendige und nie stockende. Goethe leitete sie meisterhaft ohne aber jemanden zu beschränken. Um ihn saßen seine leben den Lexika, die er bei Gelegenheit aufrief; denn er mochte sich nicht selber mit dem Ballast der bloßen Stubengelehrsamkeit beschweren. Riemer vertrat die Philologie, Meyer die Kunstgeschichte und Eckermann entrollte sich als ein endloser Citatenknäuel für jedes beliebige Fach. Dazwischen lauschte er mit eingezogenem Athem den Worten des Meisters, die er wie Orakelsprüche sofort auswendig zu lernen schien. Meyer dagegen, den man wegen seiner schweizerischen Mundart den »Kunschtmeyer« nannte, verweilte auf dem Antlitze seines alten Jugendfreundes mit rührenden Blicken, die ebensoviel Zärtlichkeit wie Bewunderung ausdrückten ..... Das Gespräch verweilte besonders bei Italien und seinen Kunstschätzen. Goethe wußte auch mir die schüchterne ungelenke Zunge zu lösen und veranlaßte mich, von meinen Studien im Vatican zu erzählen. Alle erinnerten sich mit Entzücken an Rom und priesen mit Begeisterung seine Herrlichkeit. Nur Fräulein Ulrike [203] glaubte ihrer protestantischen Entrüstung gegen den Papst und seine Regierung Luft machen zu müssen. Der alte Goethe schmunzelte überlegen und reichte der Eiferin einen Zahnstocher hinüber. »Räche Dich, meine Tochter, mit diesem hier!« sprach er launig, wobei ich nicht weiß, ob er bei Überreichung dieser seltsamen Waffe eine Anspielung auf meinen Namen im Sinne hatte. Goethe hatte eine ganze Flasche geleert und schenkte sich noch aus der zweiten ein Glas ein, während man uns schon den Kaffee reichte. Dann erhoben wir uns. Es wurden Tische zusammengeschoben und darüber weiße Tücher gebreitet, worauf ich meine Zeichnungen entrollte und erklärte. Namentlich gefielen: Leda mit dem Nest, daraus Kastor, Pollux und Helena herausgucken; Achilles und Briseïs; die Vermählung der Pasithea mit dem Gotte des Schlafs; der thronende Jupiter und der thronende Bacchus – lauter farbige Durchzeichnungen von Pompejanischen Wandgemälden, die man unter einer 30 Fuß tiefen Asche wieder an die Oberwelt gezogen hatte. Goethe betrachtete jedes Gemälde mit Liebe und Inbrunst und machte dazu die feinsinnigsten, schlagendsten Bemerkungen. Sie waren mir Beweis, wie tief dieser Genius in das Wesen der Kunst und in die Geheimnisse des Hellenischen Geistes eingedrungen. Plötzlich erklangen hinter uns straffe Schritte und als ich mich wandte, erblickte ich einen untersetzten Mann in Feldmütze und kurzem, grünsammtnem Jagdrock mit goldenen Schnüren [204] besetzt. Es war der Großherzog, wie ihn Schwerdgeburth in diesem Costüm und in einem Wagen fahrend so trefflich abgebildet hat. Er war durch den Garten gekommen und durch die Hinterthür eingetreten, von der er stets den Schlüssel hatte. Goethe begrüßte ihn mit den characteristischen Worten: »Kommen recht zum Gastmahl, königliche Hoheit!« Karl August hatte eine kurze Meerschaumpfeife in der Hand, aus der er, wo's irgend anging, beständig paffte, aber jetzt ließ er sie ausgehen; denn Goethe verabscheute den Tabak. Auch gab er seinem alten Duzbruder heute das Höflichkeits-Sie. .....

Es war meine Absicht, am nächsten Tage abzureisen, aber Goethe drang in mich, mindestens noch vierzehn Tage zu verweilen und ihn täglich zu besuchen. Der Großherzog lud mich für den folgenden Tag zum Essen, doch Goethe erklärte statt meiner: »Nein, Mittags gehört Zahn mir!« Und Karl August widersprach nicht. Die meisten der Anwesenden hatten sich schon empfohlen bis auf Coudray, Eckermann und Frau Ottilie. Auch ich wollte gehen, aber Goethe hielt mich zurück und meinte: »Habe noch Appetit. Sollen uns noch ein paar Bilder zeigen.« Er hatte sich inzwischen des Fracks entledigt und den bequemen Hausrock hervorgesucht. Dann setzte er sich in einen Armstuhl, die andern umstanden ihn, und die unterdeß hereingekommenen Enkel Walther und Wolfgang schmiegten sich an den Großpapa, während ich die[205] Zeichnungen wies. Goethes Bewunderung erregten vorzugsweise: »Das Opfer der Iphigenia« und »Hercules, von einem Genius geführt, findet seinen Sohn Telephos wieder, wie ihn eine Hirschkuh säugt.« Er versank in stille Andacht und brach dann in die Worte aus: »Ja, die Alten sind auf jedem Gebiete der heiligen Kunst unerreichbar! Sehen Sie, meine Herren, ich glaube auch etwas geleistet zu haben, aber gegen einen der großen Attischen Dichter, wie Äschylos und Sophokles, bin ich doch gar nichts.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1827. 1827, 8. (?) September. Mit Wilhelm Zahn. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A2C1-3