1809, 14. (?) Juni.


Mit Johann Daniel Falk

Ein ander Mal, es war im Sommer, 1809, wo ich Goethe Nachmittags besuchte, fand ich ihn bei milder [256] Witterung wieder in seinem Garten sitzend. Kaaz, der Landschaftsmaler, den Goethe ausnehmend schätzte, war soeben da gewesen. Er saß vor einem kleinen Gartentische; vor ihm auf demselben stand ein langgehalstes Zuckerglas, worin sich eine kleine lebendige Schlange munter bewegte, die er mit einem Federkiele fütterte und täglich Betrachtungen über sie anstellte. Er behauptete, daß sie ihn bereits kenne und mit dem Kopfe näher zum Rande des Glases komme, sobald sie seiner ansichtig würde. »Die herrlich verständigen Augen!« fuhr er fort. »Mit diesem Kopfe ist freilich manches unterwegs, aber, weil es das unbeholfene Ringeln des Körpers nun einmal nicht zuläßt, wenig genug angekommen. Hände und Füße ist die Natur diesem länglich ineinandergeschobenen Organismus schuldig geblieben, wiewohl dieser Kopf und diese Augen beides wohl verdient hätten; wie sie denn überhaupt manches schuldig bleibt, was sie für den Augenblick fallen läßt, aber späterhin doch wieder unter günstigen Umständen aufnimmt. Das Skelet von manchem Seethiere zeigt uns deutlich, daß sie schon damals, als sie dasselbe verfaßte, mit dem Gedanken einer höhern Gattung von Landthieren umging. Gar oft muß sie in einem hinderlichen Elemente sich mit einem Fischschwanze abfinden, wo sie gern ein paar Hinterfüße in den Kauf gegeben hätte, ja, wo man sogar die Ansätze dazu bereits im Skelet bemerkt hat.«

Neben dem Glase mit der Schlange lagen einige[257] Cocons von eingesponnenen Raupen, deren Durchbruch Goethe nächstens erwartete. Es zeigte sich in ihnen eine der Hand fühlbare, besondere Regsamkeit. Goethe nahm sie vom Tische, betrachtete sie noch einmal scharf und aufmerksam und sagte sodann zu seinem Knaben: »Trage sie herein; heute kommen sie schwerlich! Die Tageszeit ist zu weit vorgerückt!« Es war Nachmittag um 4 Uhr. In diesen Augenblicken kam auch Frau v. Goethe in den Garten hereingetreten. Goethe nahm dem Knaben die Cocons aus der Hand und legte sie wieder auf den Tisch. »Wie herrlich der Feigenbaum in Blüthen und Laub steht!« rief Frau v. Goethe uns schon von Weitem zu, indem sie durch den Mittelgang des Gartens auf uns zukam. Nachdem sie mich darauf begrüßt und meinen Gegengruß empfangen hatte, fragte sie mich gleich, ob ich auch wohl den schönen Feigenbaum schon in der Nähe gesehen und bewundert hätte. »wir wollen ja nicht vergessen,« so richtete sie in dem nämlichen Augenblicke an Goethe selber das Wort, »ihn diesen Winter einlegen zu lassen!« Goethe lächelte und sagte zu mir: »Lassen Sie sich ja, und das auf der Stelle, den Feigenbaum zeigen, sonst haben wir den ganzen Abend keine Ruhe. Er ist aber auch wirklich sehenswerth, und verdient, daß man ihn prächtig hält und mit aller Vorsicht behandelt.« »Wie heißt doch die ausländische Pflanze,« fing Frau v. Goethe wieder an, »die uns neulich ein Mann von Jena herüberbrachte?« »Etwa die große Nieswurz?« »Recht! [258] Sie kommt ebenfalls trefflich fort.« »Das freut mich! Am Ende können wir noch ein zweites Anticyra hiesiges Ortes anlegen!« »Da seh' ich, liegen auch die Cocons. Haben Sie noch nichts bemerkt?« »Ich hatte sie für dich zurückgelegt. Ich bitt' Euch,« indem er sie aufs Neue in die Hand nahm und an sein Ohr hielt, »wie das klopft wie das hüpft und ins Leben hinaus will! Wundervoll möcht' ich sie nennen, diese Übergänge der Natur, wenn nicht das Wunderbare in der Natur eben das Allgewöhnliche wäre. Übrigens wollen wir auch unserm Freunde hier das Schauspiel nicht vorenthalten. Morgen oder übermorgen kann es sein, daß der Vogel da ist, und zwar ein so schöner und anmuthiger, wie Ihr wohl selten gesehen habt. Ich kenne die Raupe und bescheide Euch morgen Nachmittag um dieselbe Stunde in den Garten hierher, wenn ihr etwas sehen wollt, was noch merkwürdiger ist als das Allermerkwürdigste, was Kotzebue in seinem merkwürdigsten Lebensjahre auf seiner weiten Reise bis Tobolsk irgend gesehen hat. Indeß laßt uns die Schachtel hier, worin sich unsere noch unbekannte, schöne Sylphide befindet und sich aufs prächtigste zu morgen anlegt, in irgend ein sonniges Fenster des Gartenhauses stellen! So! Hier stehst du, gutes, artiges Kind! Niemand wird dich in diesem Winkel daran hindern, deine Toilette fertig zu machen!« »Aber wie möchte ich nur,« hub Frau v. Goethe wieder aufs Neue an, indem sie einen Seitenblick auf die Schlange [259] richtete, »ein so garstiges Ding um mich leiden, wie dieses, oder es gar mit eignen Händen groß füttern? Es ist ein so unangenehmes Thier. Mir graut jedes Mal, wenn ich es nur ansehe.« »Schweig Du!« gab ihr Goethe zur Antwort, wiewohl er von Natur ruhig, diese muntere Lebendigkeit nicht ungern in seiner Umgebung hatte. »Ja!« indem er das Gespräch zu mir herübertrug, »wenn die Schlange ihr nur den Gefallen erzeigte, sich einzuspinnen und ein schöner Sommervogel zu werden, da würde von dem greulichen Wesen gleich nicht weiter die Rede sein. Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommervögel und nicht alle mit Blüthen und Früchten geschmückte Feigenbäume sein. Arme Schlange! Sie vernachlässigen dich! Sie sollten sich deiner besser annehmen! Wie sie mich ansieht! Wie sie den Kopf emporstreckt! Ist es nicht, als ob sie merkte, daß ich Gutes von ihr mit Euch spreche! Armes Ding! wie das drinnen steckt und nicht herauskann, so gern es auch wollte! Ich meine zwiefach: einmal im Zuckerglas und sodann in dem Hauptfutteral, das ihr die Natur gab.« Als er dies gesagt, fing er an, seinen Reisstift und das Zeichenpapier, worauf er bisher einzelne Striche zu einer phantastischen Landschaft zusammengezogen hatte, ohne sich dadurch beim Sprechen im geringsten irre machen zu lassen, ebenfalls bei Seite zu legen. Der Bediente brachte Wasser, und indem er sich die Hände wusch, sagte er: »Um noch ein Mal auf Maler Kaaz zurückzukommen, [260] dem Sie bei Ihrem Eintritte begegnet haben müssen, so ist er mir eine recht angenehme, ja liebliche Erscheinung. Er macht es hier in Weimar gerade so, wie er es in der Villa Borghese machte. So oft ich ihn sehe, ist es mir, als ob er ein Stück von dem seligen far niente des römischen Kunsthimmels in meine Gesellschaft mitbrächte! Ich will mir doch noch, weil er da ist, ein kleines Stammbuch aus meinen Zeichnungen anordnen. Wir sprechen überhaupt viel zu viel. Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen. Ich meinerseits möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und wie die bildende Natur in lauter Zeichnungen fortsprechen. Jener Feigenbaum, diese kleine Schlange, der Cocon, der dort vor dem Fenster liegt und seine Zukunft ruhig erwartet, alles das sind inhaltschwere Signaturen; ja, wer nur ihre Bedeutung recht zu entziffern vermöchte, der würde alles Geschriebenen und alles Gesprochenen bald zu entbehren im Stande sein! Je mehr ich darüber nachdenke, es ist etwas so unnützes, so Müßiges, ich möchte fast sagen Geckenhaftes im Reden, daß man vor dem stillen Ernste der Natur und ihrem Schweigen erschrickt, sobald man sich ihr vor einer einsamen Felsenwand oder in der Einöde eines alten Berges gesammelt entgegenstellt!«

»Ich habe hier eine Menge Blumen und Pflanzengewächse,« indem er auf seine phantastische Zeichnung wies, »wunderlich genug auf dem Papier zusammengebracht. Diese Gespenster könnten noch toller, noch [261] phantastischer sein, so ist es doch die Frage, ob sie nicht auch irgendwo so vorhanden sind.«

»Die Seele musicirt, indem sie zeichnet, ein Stück von ihrem innersten Wesen heraus, und eigentlich sind es die höchsten Geheimnisse der Schöpfung, die, was ihre Grundanlagen betrifft, gänzlich auf Zeichnen und Plastik beruht, welche sie dadurch ausplaudert. Die Combinationen in diesem Felde sind so unendlich, daß selbst der Humor eine Stelle darin gefunden hat. Ich will nur die Schmarozerpflanzen nehmen; wie viel Phantastisches, Possenhaftes, Vogelmäßiges ist nicht allein in den flüchtigen Schriftzügen derselben enthalten! Wie Schmetterlinge setzt sich ihr fliegender Same an diesen oder jenen Baum an und zehrt an ihm, bis das Gewächs groß wird. So in die Rinde eingesäet, eingewachsen finden wir den sogenannten viscus, woraus Vogelleim bereitet wird, zunächst als Gesträuch am Birnbaum. Hier, nicht zufrieden damit, daß er sich als Gast um denselben herumschlingt, muß ihm der Birnbaum sogar sein Holz machen.«

»Das Moos auf den Bäumen, das auch nur parasitisch dasitzt, gehört ebendahin. Ich besitze sehr schöne Präparate über die Geschlechter, die nichts für sich in der Natur übernehmen, sondern sich in allen Stücken nur auf bereits Vorhandenes einlassen. Ich will sie Ihnen bei Gelegenheit vorzeigen. Sie mögen mich daran erinnern. Das Würzhafte gewisser Stauden, die auch zu den Parasiten gehören, läßt sich aus der [262] Steigerung der Säfte recht gut erklären, da dieselben nicht nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur mit einem roh irdischen, sondern mit einem bereits gebildeten Stoffe ihren ersten Anfang machen.«

»Kein Apfel wächst mitten am Stamme, wo Alles rauh und holzig ist. Es gehört schon eine lange Reihe von Jahren und die sorgsamste Vorbereitung dazu, so ein Äpfelgewächs in einen tragbaren, weinichten Baum zu verwandeln, der allererst Blüthen und so dann auch Früchte hervortreibt. Jeder Apfel ist eine kugelförmige, compacte Masse und fordert als solche beides, eine große Concentration und auch zugleich eine außerordentliche Veredelung und Verfeinerung der Säfte, die ihm von allen Seiten zufließen. Man denke sich die Natur, wie sie gleichsam vor einem Spieltische steht und unaufhörlich au double! ruft, d.h. mit dem bereits Gewonnenen durch alle Reiche ihres Wirkens glücklich, ja bis ins Unendliche wieder fortspielt. Stein, Thier, Pflanze, alles wird nach einigen solchen Glückswürfen beständig von neuem wieder aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höhern Ziele ist?«

Während dieser angenehmen Unterhaltung war der Abend herbeigekommen, und weil es im Garten zu kühl wurde, gingen wir herauf in die Wohnzimmer. Späterhin standen wir an einem Fenster. Der Himmel war mit Sternen besät. Die durch die freiere Gartenumgebung angeklungenen Saiten in Goethes Seele [263] zitterten noch immer fort und konnten auch zu Abend nicht aus ihren Schwingungen kommen. »Es ist Alles so ungeheuer,« sagte er zu mir, »daß an kein Aufhören von irgend einer Seite zu denken ist. Oder meinen Sie, daß selbst die Sonne, die doch Alles verschafft, schon mit der Schöpfung ihres eigenen Planetensystems völlig zu Rande wäre, und daß sonach die Erden und Monde bildende Kraft in ihr entweder ausgegangen sei, oder doch unthätig und völlig nutzlos daliege? Ich glaube dies keineswegs. Mir ist es sogar höchst wahrscheinlich, daß hinter Mercur, der an sich schon klein genug ausgefallen ist, einst noch ein kleinerer Stern als dieser zum Vorschein kommen wird. Man sieht freilich schon aus der Stellung der Planeten, daß die Projectionskraft der Sonne merklich abnimmt, weil die größten Massen im Systeme auch die größte Entfernung einnehmen. Eben auf diesem Wege aber kann es, fortgeschlossen, dahin kommen, daß wegen Schwächung der Projectionskraft irgend ein versuchter Planetenwurf irgend einmal verunglückte. Kann die Sonne sodann den jungen Planeten nicht wie die vorigen gehörig von sich absondern und ausstoßen, so wird sich vielleicht, wie beim Saturn, ein Ring um sie legen, der uns armen Erdenbewohnern, weil er aus irdischen Bestandtheilen zusammengesetzt ist, ein böses Spiel machen dürfte. Und nicht mir für uns, sondern auch für alle übrigen Planeten unseres Systems würde die Schattennähe eines solchen Ringes wenig Erfreuliches bewirken. [264] Die milden Einflüsse von Licht und Wärme müßten natürlich dadurch verringert werden, und alle Organisationen, deren Entwickelung ihr Werk ist, die einen mehr, die andern weniger sich dadurch gehemmt fühlen.«

»Nach dieser Betrachtung könnten die Sonnenflecke allerdings einige Unruhe für die Zukunft erwecken. So viel ist gewiß, daß wenigstens in dem ganzen uns bekannt gewordenen Bildungshergang und Gesetz unseres Planeten nichts enthalten ist, was der Formation eines Sonnenringes entgegenstände, wiewohl sich freilich für eine solche Entwickelung keine Zeit angeben läßt.«

[Was Riemer »Mittheilungen« I, 27 gegen diese Erzählung, sowie sonst gegen Berichte Falk's vorbringt, hat von deren Aufnahme hier nicht abhalten dürfen]

[265]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1809. 1809, 14. (?) Juni. Mit Johann Daniel Falk. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A30A-C