1812, gegen Mitte Mai.


Mit Simon von Lämel

Der böhmische Edelmann... [Simon v. Laemel] befand sich gleichzeitig mit Goethe in dem Kurorte [Karlsbad] und pflegte auf einer im einsamen Walde gelegenen Bank auszuruhen. Goethe, der vorüberkam, gesellte sich grüßend zu ihm. Hr. v. L. that, als ob er den Dichter nicht kenne, und erwähnte, um dies in Karlsbad, wo Goethe von aller Welt gekannt wurde, glaubwürdig zu machen, daß er erst hier angekommen sei. Goethe mochte an dem lebenserfahrenen Gespräche des feingeistigen Mannes, der in seiner Aussprache die jüdische Herkunft merken ließ, Gefallen gefunden haben. Sie fanden sich ohne Verabredung öfters an derselben Stelle und zu gleicher Stunde zusammen. »Erst jetzt« – äußerte Hr. V. L. – »weiß ich, daß ich die seltene Ehre habe, mit Sr. Excellenz, dem Herrn Minister v. Goethe zu sprechen.« Dabei stand er auf und verneigte sich tief: »Ich bin der Banquier Lämmel aus Prag.« – »Eine ausnehmend merkwürdige Stadt!« sagte Goethe, ohne auf die Erkennungsscene einzugehen und sich niederlassend. »Die Synagoge, wenn sie auch nicht so alt ist, wie die gerne übertreibenden Juden meinen, ist ein interessanter gothischer Bau, vielleicht aus dem zwölften Jahrhunderte. Und der Friedhof mit seinen ehrwürdigen Monumenten! Er verdiente [314] gezeichnet und die Inschriften erhalten zu werden. Im Laufe der Zeiten geht so Ehr-und Denkwürdiges doch verloren.« – Ein jüdisches Thema war so angeklungen und Hr. v. L. sagte ohne jede Vermittlung: »Der Schiller, Ew. Excellenz, hat uns Juden mit seiner Abhandlung, ›Die Sendung Moses‹ sehr wehgethan, und was das Schlimmste ist, er hat uns gekränkt, weil er die Sache gar nicht verstanden hat.« – Goethe, ohne in eine Meinungsäußerung einzugehen, doch bei dem Thema bleibend, äußerte: »Der Eindruck, den ich in früher Jugend in meiner Vaterstadt empfing, war mir ein mehr erschreckender. Die Gestalten der engen und finstern Judenstadt waren mir gar sehr befremdliche und unverständliche Erscheinungen, die meine Phantasie beschäftigten, und ich konnte gar nicht begreifen, wie dieses Volk das merkwürdigste Buch der Welt aus sich herausgeschrieben hat. Was sich allerdings in meiner frühern Jugend als Abscheu gegen die Juden in mir regte, war mehr Scheu vor dem Räthselhaften, vor dem Unschönen. Meine Verachtung, die sich wohl zu regen pflegte, war mehr der Reflex der mich umgebenden christlichen Männer und Frauen. Erst später, als ich viele geistbegabte, feinfühlige Männer dieses Stammes kennen lernte, gesellte sich Achtung zu der Bewunderung, die ich für das bibelschöpferische Volk hege, und für den Dichter, der das hohe Liebeslied gesungen hat. Beide [?] Bücher haben mich mannigfach beschäftigt.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1812. 1812, gegen Mitte Mai. Mit Simon von Lämel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A327-A