1823, 23. September.


Mit Friedrich von Müller

Ich war kaum gegen 6 Uhr in Goethes Zimmer getreten, zunächst um Professor Umbreit für morgen [270] anzumelden, als der alte Herr seinen leidenschaftlichen Zorn über unser neues Judengesetz 1, welches die Heirath zwischen beiden Glaubensverwandten gestattet, ausgoß. Er ahndete die schlimmsten und grellsten Folgen davon, behauptet, wenn der Generalsuperintendent Charakter habe, müsse er lieber seine Stelle niederlegen als eine Jüdin in der Kirche im Namen der heiligen Dreifaltigkeit trauen. Alle sittlichen Gefühle in den Familien, die doch durchaus auf den religiösen ruhten, würden durch ein solch scandalöses Gesetz untergraben. Dieser sein Unmuth, sich nach dem heitern Aufenthalt in Marienbad wieder hier eingeengt zu befinden, machte sich den ganzen Abend vielfach bemerkbar. Als ich ihn zu täglichen Spazierfahrten antrieb, sagte er: »Mit wem soll ich fahren, ohne Langeweile zu empfinden? Die Stael hat einst ganz richtig zu mir gesagt: Il vous faut de la séduction. Ja ich bin wohl und heiter heimgekehrt, drei Monate lang habe ich mich glücklich gefühlt, von einem Interesse zum andern, von einem Magnet zum andern gezogen, fast wie ein Ball hin und her geschaukelt, aber nun – ruht der Ball wieder in der Ecke und ich muß mich den Winter durch in meiner Dachshöhle vergraben, und zusehen, wie ich mich durchflicke.« Wie schmerzlich ist es doch, solch eines Mannes innere Zerrissenheit zu gewahren, zu sehen, wie das verlorene Gleichgewicht seiner Seele sich durch keine Wissenschaft, [271] keine Kunst wieder herstellen läßt, ohne die gewaltigsten Kämpfe, und wie die reichsten Lebenserfahrungen, die hellste Würdigung der Weltverhältnisse ihn davor nicht schützen konnten. Was in seinem Judeneifer recht merkwürdig war, ist die tiefe Achtung vor der positiven Religion, vor den bestehenden Staats-Einrichtungen, die trotz seiner Freidenkerei überall durchblickte. »Wollen wir denn überall im Absurden vorausgehen, alles Fratzenhafte zuerst probiren?« sagte er unter andern.


Note:

1 Vom 20. Juni 1823. Nachtrag vom 6. Mai 1833 im weimarischen Regierungsblatt.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 23. September. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A409-6