1827, 18. November.


Mit Gustav Stickel

Es war damals Brauch, daß die an der Universität sich Habilitirenden ihre Inauguraldissertation den Herren Ministern in Weimar persönlich überreichten. So that ich es auch mit der meinigen über die erhabene Theophanie, den hochfliegenden Hymnus in Habakuks drittem Capitel. Ein Brief von Knebel an Goethe begleitete mich. Auf meine Anmeldung brachte der Bediente die Antwort, Se. Excellenz sei mit seiner mineralogischen Sammlung beschäftigt. Ich gab meinen [256] Brief, den ich eigenhändig abzugeben gedacht hatte, an den Diener ab und wurde nun zu Goethe hinauf beschieden ..... Da öffnete sich die Thür und der Dichterfürst trat in ruhiger Würde herein. Eine geborene Majestät, wenn auch nicht von so hoher Gestalt, wie sie sich von dem geistig Großen meine jugendliche Phantasie gebildet hatte. Unwillkürlich verneigte ich mich so tief, wie sonst noch vor keinem Sterblichen; eine innere Gewalt beugte mich nieder.

Nachdem Goethe mich auf dem Sopha neben sich hatte niedersetzen lassen, knüpfte er eine Unterhaltung an, aus der mir nur erinnerlich ist, daß ich meiner Besorgniß Ausdruck gab wegen der damaligen Zeitströmung und der Tendenzen in der theologischen Welt. Es begann die Reaction gegen den herrschenden Rationalismus. Man hatte in Halle die Vorlesungen von Gesenius und Wegscheider behorchen lassen, auf Grund von Studentischen Collegienheften wurden die beiden zu amtlicher Verantwortung gezogen, und die Gefahr, daß sie vom akademischen Lehrstuhl verdrängt werden sollten, schien so bedrohlich, daß in Jena Schott und Baumgarten-Crusius, wenn ich nicht irre, von Berlin aus Schleiermacher und noch andere Professoren von anderwärts zum Schutz und zur Vertheidigung einer freiern Theologie in Brochuren sich Vernehmen ließen. Unter dem Eindruck solcher Vorgänge waren mir jene Besorgnisse auf die Lippen gekommen. – »Lassen Sie das gut sein!« hob Goethe an; »Der Mensch, [257] der einer guten Sache dient, wohnt in einer festen Burg.«

Hiernach erzählte er von dem Religionsunterricht, den er in seiner Jugend erhalten habe in den starren dogmatischen Formeln, die keinem guten Kopf zusagen und befriedigen konnten. »Da habe ich« – fügte er hinzu – »erst gar manche Schale brechen müssen, bis ich zum Kern durchgedrungen bin.« – Als er mich dann entließ, lud er mich ein, künftig bei meiner Anwesenheit in Weimar in seinem »Hause einzusprechen.«

[258]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1827. 1827, 18. November. Mit Gustav Stickel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A4CE-A