1824, 2. Mai.
Mit Johann Peter Eckermann
Goethe machte mir Vorwürfe, daß ich eine hiesige angesehene Familie nicht besucht. »Sie hätten,« sagte er, »im Laufe des Winters dort manchen genußreichen Abend verleben, auch die Bekanntschaft manches bedeutenden Fremden dort machen können; das ist Ihnen nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren gegangen.«
»Bei meiner erregbaren Natur,« antwortete ich, »und bei meiner Disposition, vielseitig Interesse zu nehmen und in fremde Zustände einzugehen, hätte mir nichts lästiger und verderblicher sein können als eine zu große Fülle neuer Eindrücke. Ich bin nicht zu Gesellschaften erzogen und nicht darin hergekommen. Meine frühern Lebenszustände waren der Art, daß es mir ist als hätte ich erst seit der kurzen Zeit zu leben angefangen, die ich in Ihrer Nähe bin. Nun ist mir alles neu. Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht in meinem Innern Epoche. Was an anders cultivirten und anders gewöhnten Personen gleichgültig vorübergeht, ist bei mir im höchsten Grade wirksam, und da die Begier mich zu belehren groß ist, so ergreift meine Seele alles mit einer gewissen Energie und saugt daraus so viele Nahrung als möglich. Bei solcher Lage meines Innern hatte ich daher im Laufe des letzten [70] Winters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkommen genug, und ich hätte mich nicht neuen Bekanntschaften und anderm Umgange hingeben können, ohne mich im Innersten zu zerstören.«
»Ihr seid ein wunderlicher Christ,« sagte Goethe lachend; »thut was Ihr wollt, ich will Euch gewähren lassen.«
»Und dann,« fuhr ich fort, »trage ich in die Gesellschaft gewöhnlich meine persönlichen Neigungen und Abneigungen und ein gewisses Bedürfniß zu lieben und geliebt zu werden. Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich gern hingeben und mit den andern nichts zu thun haben.«
»Diese Ihre Naturtendenz,« erwiederte Goethe, »ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen! Es ist eine große Thorheit, zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmoniren sollen. Ich habe es nie gethan. Ich habe einen Menschen immer nur als ein für sich bestehendes Individuum angesehen, das ich zu erforschen und das ich in seiner Eigenthümlichkeit kennen zu lernen trachtete, wovon ich aber durchaus keine weitere Sympathie verlangte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntniß mannigfaltiger Charactere sowie die nöthige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden [71] Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen, und dadurch werden alle die verschiedenen Seiten in uns angeregt und zur Entwickelung und Ausbildung gebracht, sodaß man sich denn bald jedem Vis-à-vis gewachsen fühlt. So sollen Sie es auch machen. Sie haben dazu mehr Anlage, als Sie es selber glauben; und das hilft nun einmal nichts: Sie müssen in die große Welt hinein, Sie mögen sich stellen wie Sie wollen.«
Ich merkte mir diese guten Worte und nahm mir vor, soviel wie möglich danach zu handeln.
Gegen Abend hatte Goethe mich zu einer Spazierfahrt einladen lassen. Unser Weg ging durch Oberweimar über die Hügel, wo man gegen Westen die Ansicht des Parks hat. Die Bäume blühten, die Birken waren schon belaubt und die Wiesen durchaus ein grüner Teppich, über welche die sinkende Sonne herstreifte. Wir suchten malerische Gruppen und konnten die Augen nicht genug aufthun. Es ward bemerkt, daß weißblühende Bäume nicht zu malen, weil sie kein Bild machen, sowie daß grünende Birken nicht im Vordergrunde eines Bildes zu gebrauchen, indem das schwache Laub dem weißen Stamme nicht das Gleichgewicht zu halten vermöge; es bilde keine großen Partien, die man durch mächtige Licht- und Schattenmassen herausheben könne. »Ruysdael,« sagte Goethe, »hat daher nie belaubte Birken in den Vordergrund gestellt, sondern bloße Birkenstämme, abgebrochene, die kein Laub [72] haben. Ein solcher Stamm paßt vortrefflich in den Vordergrund; denn seine helle Gestalt tritt auf das mächtigste heraus.«
Wir sprachen sodann, nach flüchtiger Berührung anderer Gegenstände, über die falsche Tendenz solcher Künstler, welche die Religion zur Kunst machen wollen, während ihnen die Kunst Religion sein sollte. »Die Religion,« sagte Goethe, »steht in demselbigen Verhältniß zur Kunst wie jedes andere höhere Lebensinteresse auch. Sie ist blos als Stoff zu betrachten, der mit allen übrigen Lebensstoffen gleiche Rechte hat. Auch sind Glaube und Unglaube durchaus nicht diejenigen Organe, mit welchen ein Kunstwerk aufzufassen ist, vielmehr gehören dazu ganz andere menschliche Kräfte und Fähigkeiten. Die Kunst aber soll für diejenigen Organe bilden, mit denen wir sie auffassen; thut sie das nicht, so versteht sie ihren Zweck und geht ohne die eigentliche Wirkung an uns vorüber. Ein religiöser Stoff kann indeß gleichfalls ein guter Gegenstand für die Kunst sein, jedoch nur in dem Falle, wenn er allgemein menschlich ist. Deshalb ist eine Jungfrau mit dem Kinde ein durchaus guter Gegenstand, der hundertmal behandelt worden und immer gern wieder gesehen wird.«
Wir waren indeß um das Gehölz, das Webicht, gefahren und bogen in der Nähe von Tiefurt in den Weg nach Weimar zurück, wo wir die untergehende Sonne im Anblick hatten. Goethe war eine Weile in [73] Gedanken verloren, dann sprach er zu mir die Worte eines Alten:
Untergehend sogar ist's immer dieselbige Sonne.
»Wenn einer fünfundsiebzig Jahre alt ist,« fuhr er darauf mit großer Heiterkeit fort, »kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur, es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit, es ist der Sonne ähnlich, die blos unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.«
Die Sonne war indeß hinter dem Ettersberge hinabgegangen; wir spürten in dem Gehölz einige Abendkühle und fuhren desto rascher in Weimar hinein und an seinem Hause vor. Goethe bat mich, noch ein wenig mit hinaufzukommen, welches ich that. Er war in äußerst guter, liebenswürdiger Stimmung. Er sprach darauf besonders viel über die Farbenlehre, über seine verstockten Gegner, und daß er das Bewußtsein habe, in dieser Wissenschaft etwas geleistet zu haben.
»Um Epoche in der Welt zu machen,« sagte er bei dieser Gelegenheit, »dazu gehören bekanntlich zwei Dinge: erstens daß man ein guter Kopf sei, und zweitens daß man eine große Erbschaft thue. Napoleon erbte die französische Revolution, Friedrich der Große den schlesischen Krieg, Luther die Finsterniß der Pfaffen, und mir ist der Irrthum der Newton'schen Lehre zutheil [74] geworden. Die gegenwärtige Generation hat zwar keine Ahnung, was hierin von mir geleistet worden; doch künftige Zeiten werden gestehen, daß mir keineswegs eine schlechte Erbschaft zugefallen.«
Goethe hatte mir heute früh ein Convolut Papiere in Bezug auf das Theater zugesendet; besonders fand ich darin zerstreute einzelne Bemerkungen, die Regeln und Studien enthaltend, die er mit Wolff und Grüner durchgemacht, um sie zu tüchtigen Schauspielern zu bilden. Ich fand diese Einzelheiten von Bedeutung und für junge Schauspieler in hohem Grade lehrreich, weshalb ich mir vornahm, sie zusammenzustellen und daraus eine Art von Theaterkatechismus zu bilden. Goethe billigte dieses Vorhaben, und wir sprachen die Angelegenheit weiter durch. Dies gab Veranlassung, einiger bedeutender Schauspieler zu gedenken, die aus seiner Schule hervorgegangen, und ich fragte bei dieser Gelegenheit unter andern auch nach der Frau von Heygendorff. »Ich mag auf sie gewirkt haben,« sagte Goethe, »allein meine eigentliche Schülerin ist sie nicht. Sie war auf den Brettern wie geboren und gleich in allem sicher und entschieden, gewandt und fertig wie die Ente auf dem Wasser. Sie bedurfte meiner Lehre nicht, sie that instinktmäßig das Rechte, vielleicht ohne es selber zu wissen.«
Wir sprachen darauf über die manchen Jahre seiner Theaterleitung, und welche unendliche Zeit er damit für sein schriftstellerisches Wirken verloren. »Freilich,« [75] sagte Goethe, »ich hätte indeß manches gute Stück schreiben können, doch wenn ich es recht bedenke, gereut es mich nicht. Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln.«
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