1823, 31. März.


Mit Friedrich von Müller
und Friedrich Wilhelm Riemer

Heute war ich von 6-9 1/4 Uhr bei ihm, mit Riemer, anfangs auch mit Meyer.

Einer der interessantesten, behaglichsten und gemüthlichsten Abende unter vielen! Goethe war durchaus [220] heiter, gemäßigt, mittheilend, lehrreich, keine Pique, keine Ironie, nichts Leidenschaftliches oder Abstoßendes.

Er theilte uns seine Recension über Varnhagen's Biographien von Graf Schulenburg, Graf Bückeburg und Theodor von Neuhof, mit. »Weltmärchen« nannte er sie. Dann auch seine Antwort an den Übersetzer und Travestirer seiner Lebensbeschreibung in Paris, Msr. Bitry. 1

Der Eingang ist besonders glücklich, nach kurzer Entschuldigung der langen Zögerung sogleich in die Mitte des Gegenstandes sich versetzend und bei aller Billigung des jenseitigen Verfahrens doch nicht ohne Ironie und kleine Seitenhiebe. Dann las er uns seine Einleitung und Analyse der von Helvig'schen Übersetzung schwedischer Romanzen von Tegnér nach alten Sagen und eine solche Romanze selbst, »die Königswahl«, pathetisch vor, die von überaus großer Naivetät und Anmuth ist.

Die Gespräche über den Kölnischen Carneval leiteten auf Herrn v. Haxthausen daselbst, der viele neugriechische Lieder besitzt, aber aus Unentschlossenheit nicht herausgibt.

»Nichts ist verderblicher, als sich immer feilen und bessern zu wollen, nie zum Abschluß kommen; das hindert alle Production.«

[221] Durch Gedankenassociation brachte ich das Gespräch auf den verstorbenen Geh. Reg. Rath Hetzer und seine Geschäftsreste und dann ging es auf Geh. Rath V. Fritsch, den Vater, über.

Goethe rühmte, daß dieser stets redlich gegen ihn gewesen, obgleich sein, Goethes Treiben und Wesen ihm durchaus nicht habe zusagen können. Aber er habe doch Goethes reinen Willen, uneigennütziges Streben und tüchtige Leistungen anerkannt. Seine Gegenwart, seine Äußerlichkeit sei nicht gerade erfreulich gewesen, vielmehr scheinbar starr, ja hart; er habe nichts Behagliches oder Feines in seinen Formen gehabt, aber viel Energie des Willens, viel Verstand, wie schon aus seinen zwei Söhnen sich schließen lasse, die denn doch selbstständig genug auf eignen Füßen ständen.

Riemer bemerkte, daß es ein großer Irrthum sei, das Wissen und den Charakter von einander zu trennen; eins sei erst durch das andere etwas, durch den Charakter trete jenes erst recht hervor; man könne allenfalls ohne Wissen, aber nicht ohne Charakter leben. »Ja wohl«, versetzte Goethe, »der Charakter ersetzt nicht das Wissen, aber er supplirt es. Mir ist in allen Geschäften und Lebensverwickelungen das Absolute meines Charakters sehr zu statten gekommen; ich konnte Vierteljahre lang schweigen und dulden, wie ein Hund, aber meinen Zweck immer festhalten; trat ich dann mit der Ausführung hervor, so drängte ich unbedingt mit aller Kraft zum Ziele, mochte fallen rechts oder links, was [222] da wollte. Aber wie bin ich oft verlästert worden; bei meinen edelsten Handlungen am meisten. Doch das Geschrei der Leute kümmerte mich nichts. Die Kinder und ihr Benehmen gegen mich waren oft mein Barometer hinsichtlich der Gesinnungen der Eltern. Ich nahm alle Zustände der Personen, meine Kollegen z.B. durchaus real, als gegebene, einmal fixirte Naturwesen, die nicht anders handeln können als sie handeln, und ordnete hiernach meine Verhältnisse zu ihnen. Dabei suchte ich ringsum mich selbst richtig zu sehen. In die Kriegscommission trat ich nur, um den Finanzen durch die Kriegscasse aufzuhelfen, weil da am ersten Ersparnisse zu machen waren.

Der Ilmenauer Bergbau würde sich wohl gehalten haben, wäre er nicht isolirt da gestanden; hätte er sich an ein Harzer oder Freiberger Bergwesen anschließen können.

Einen Parvenu wie mich konnte bloß die entschiedenste Uneigennützigkeit aufrecht erhalten. Ich hatte von vielen Seiten Anmahnungen zum Gegentheil; aber ich habe meinen schriftstellerischen Erwerb und zwei Drittel meines väterlichen Vermögens hier zugesetzt und erst mit 1200 Thaler, dann mit 1800 Thaler bis 1815 gedient.«

Riemer sagte: »Ach wie glücklich sind Sie, daß Sie immer so real im Leben stehen konnten; ich komme mit aller Anstrengung nie hinein in's Leben, geschweige durch.«


Note:

1 Mémoires de Goethe, trad. de l'allemand par Aubert François, Jean Philib. de Vitry, Paris 1823. 2 vol.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1823. 1823, 31. März. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A4FB-6